GIBT ES EINE GRENZE ZWISCHEN DEMOKRATIE UND DIKTATUR?HANS ROBERT JAUSS, MICHEL HOUELLEBECQ, CÉCILE WAJSBROT

GIBT ES EINE GRENZE ZWISCHEN DEMOKRATIE UND DIKTATUR?HANS ROBERT JAUSS, MICHEL HOUELLEBECQ, CÉCILE WAJSBROT

IS THERE A BORDER BETWEEN DEMOCRACY AND DICTATORSHIP? HANS ROBERT JAUSS, MICHEL HOUELLEBECQ, CÉCILE WAJSBROT

Ottmar Ette[1]

[1] Professor da Universidade de Potsdam (Alemanha). ORCID 0000-0002-7551-9814


RESUMO:

Existe uma fronteira entre democracia e ditadura? A partir dos estudos literários, esta questão talvez possa ser respondida mais conclusivamente tendo como base as hipóteses de trabalho que fundamentam este artigo: não há apenas uma, mas milhares de fronteiras que separam um sistema democrático de governo (do tipo europeu occidental) de sistemas e regimes autoritários, ditatoriais. Atualmente atravessamos estas fronteiras diariamente, e as literaturas do mundo são vitais para nossa sobrevivencia hoje precisamente porque de maneira palpável nos lembram como são precárias as certezas em que confiamos durante certos períodos temporais. Elas nos mostram não apenas retrospectivamente, mas acima de tudo prospectivamente, o quanto é necessário estar atento quando nos movemos na área fronteiriça e mais ainda na área de tensão entre democracia e ditadura. A seguir, esta tese será exemplificada com os casos de Hans Robert Jauss, Michel Houellebecq e Cécile Wajsbrot.

Palavras-chave: democracia; ditadura; Hans Robert Jauss; Michel Houellebecq; Cécile Wajsbrot


ABSTRACT:

Is there a border between democracy and dictatorship? From the perspective of literary studies, this question can perhaps be answered most conclusively on the basis of the working hypothesis on which this paper is based: there are not one, but thousands of boundaries that separate a democratic system of government (of the Western European type) from authoritarian, dictatorial systems and regimes. We currently cross these borders daily, and the literatures of the world are vital for our survival today precisely because they sensually remind us how precarious the certainties are to which we tend to entrust ourselves for the duration of certain periods of time. They show us not only retrospectively, but above all prospectively, to what extent it is necessary to be attentive when we move in the border area and even more in the area of tension between democracy and dictatorship. In the following, this thesis will be exemplified by the examples of Hans Robert Jauss, Michel Houellebecq and Cécile Wajsbrot.

Keywords: democracy; dictatorship; Hans Robert Jauss; Michel Houellebecq; Cécile Wajsbrot


Vervielfachung der Grenzen (Didier Fassin)

Die Titelfrage dieses Aufsatzes, ob es denn eine Grenze zwischen Demokratie und Diktatur gebe, läßt sich vielleicht am schlüssigsten mit der hier zu Grunde gelegten Arbeitshypothese beantworten: Es gibt nicht eine, sondern Tausende von Grenzen, welche ein demokratisches Regierungssystem (westeuropäischen Typs) von autoritären, diktatorischen Systemen und Regimen trennen. Wir überqueren diese Grenzen derzeit täglich. Welche Bedeutung und welche Funktion aber nehmen diese Grenzen in unserem Leben, in unseren Leben in der aktuellen geschichtlichen Zwischen-Zeit am Ausgang der vierten Phase beschleunigter Globalisierung[2] an? Und welche Veränderungen prägen die aktuelle politische Übergangsphase?

In seiner Frankfurter Adorno-Vorlesung des Jahres 2016 hat der französische Sozialwissenschaftler und ehemalige Vizepräsident von »Ärzte ohne Grenzen« Didier Fassin ausgehend von den Minima Moralia Theodor W. Adornos[3] den Versuch unternommen, in einer einzigen langen Periode gleich zu Beginn wesentliche Veränderungen unserer Zeit anzusprechen. Mit Blick auf die Zeit seit dem Erscheinen von Adornos wegweisendem Text von 1951 sprach er eine Reihe von Aspekten an, die für unsere Untersuchung von Bedeutung sein werden:

Seit dem Erscheinen dieses Textes sind 65 Jahre vergangen, und der Kapitalismus, den wir kaum noch beim Namen nennen - und mittlerweile lieber mit einem zweideutigen Euphemismus als »Liberalismus« bezeichnen -, scheint noch größere Triumphe zu feiern und noch unumstrittener zu sein als zu der Zeit, als Adorno sein Buch schrieb, während die tragischen Lehren des Zweiten Weltkriegs und seiner Völkermorde, aus denen sich das Denken seiner Zeitgenossen auf schmerzliche Weise speiste, anscheinend in dem Maße verblassen, wie sich Identitätsdiskurse Gehör verschaffen und autoritäre Versuchungen Bahn brechen: Die Gewaltsamkeit und Unsicherheit einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt werden zur Legitimation aller möglichen Formen von Ausschließung und Unterdrückung herangezogen. Dies sind beunruhigende Anzeichen für ein neues »Zeitalter der Angst«, um den Titel des im selben Zeitraum von dem britischen Schriftsteller W.H. Auden geschriebenen Langgedichts wieder aufzugreifen, denn ein solches Auf und Ab des demokratischen Lebens belastet die Menschenleben auf grundverschiedene und oftmals ungleich starke Weise.[4]

Was hier in der Rede von einem »Auf und Ab des demokratischen Lebens« wohl eher ironisch angesprochen wird, ist die ebenso Adorno und Horkheimer wie den Autor von The Age of Anxiety[5] prägende Jahrhunderterfahrung der Nazi-Barbarei, der Shoah und einer Zeitenwende nach 1945, deren historisches Gewordensein selbst schon wieder einem verblassenden Historisch-Geworden-Sein ausgeliefert zu werden droht. Schon tauchen etwa in Deutschland Forderungen auf, der Besuch eines Konzentrationslagers müsse für alle Schüler obligatorisch sein. Die Erinnerung an die Diktatur der Nationalsozialisten wie an andere autoritäre Regime, die Erinnerung an den Mord an den Juden, die Erinnerung an das Unheil der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwindet zeitgleich mit dem Tod der letzten Überlebenden von Auschwitz immer mehr. Gibt es eine neue erinnerungspolitische Situation?

In der Tat haben sich nicht allein in Europa längst wieder Diskurse der Identität, die in ihrer Gefährlichkeit und in ihrem Ausschließungscharakter allzu gerne unterschätzt zu werden pflegen[6] , in unseren Gesellschaften breit gemacht und dabei zunehmend auf Wortfügungen zurückgegriffen, die uns aus der Nazi-Sprache, aus der subtilen Sprachanalyse von Victor Klemperers LTI[7], bestens vertraut sind. Mag sein, daß sie uns so altbekannt vorkommen, weil sie nicht wirklich ganz aus dem Wortschatz unserer Zeit verschwunden waren, sondern nur ein zeitweise gut getarntes Dasein im Untergrund, im Versteck führten, um bei nächstbester Gelegenheit jenseits aller Sprachkritik wieder aufzutauchen. Die »Schutzhaft« hinter der Haft, die »Lügenpresse« hinter der Presse, das »Völkische« hinter dem Volk: Sie waren nur zeitweise untergetaucht und sind nun wieder zurück in unserer Logosphäre - in der Welt der Wörter, die uns umgeben, die wir alltäglich einatmen. Als wäre nichts geschehen.

Wir hören von diesen Wörtern, die ihre Geschichte am Leben halten, jeden Tag, denn sie werden in unseren Massenkommunikationssystemen ständig »angeführt« und geradezu herbeizitiert. Diese Zitate, bisweilen in bester kritischer Absicht, haben unsere Logosphäre längst verschmutzt, den öffentlichen Diskurs verändert: Sie haben die totalitäre Vergangenheit wieder in die Gegenwart projiziert. Dies ist eine Bedrohung, aber auch eine Chance.

Kein Zweifel: Es ist wieder sagbar geworden, was lange Zeit unsagbar, da unsäglich, war. Die Wort-Materialien der Menschenverachtung waren im Grunde noch immer da - und sie standen wie immer zur Nutzung bereit. Die Anmerkungen von Didier Fassin treffen ins Schwarze, ins Braune des Identitären: Aber steht uns ein neues Age of Anxiety, steht uns eine neue Zeit des Schreckens und des Grauens im Zeichen neuer Diktaturen bevor?

Gewiß: Dem französischen Sozialwissenschaftler ging es in seinen Adorno-Vorlesungen weder vordergründig um das Aufkommen möglicher neuer Diktaturen noch um die Frage, ob es zwischen Demokratie und Diktatur eine Grenze gebe. Seine Arbeit zielte vielmehr darauf ab, in seinem Buch, das ursprünglich den Titel »Über die Ungleichheit der Leben« tragen sollte[8], seine ethnographischen und ethnosoziologischen Untersuchungen mit der aus seiner Sicht philosophischen Ur-Frage nach dem Leben zu verbinden. Doch die Suche nach dem, was "Ungleiche Leben"[9] - so der Titel seines Schlußkapitels - ausmacht, beinhaltet die Frage nach den Ausschlußmechanismen, denen er im Kontext der Flüchtlingsströme in Frankreich, in Südafrika oder in Indien nachging.

Die Auseinandersetzung mit der Problematik, was »Leben« oder »das Leben« sei, verbindet sich dabei geradezu notwendig mit der Frage nach den Grenzen des Lebens[10]. Diese Grenzen aber sind, dies wissen wir aus schmerzhafter Erfahrung, so einfach nicht zu bestimmen: Aus juristischer oder theologischer, biotechnologischer oder philosophischer Perspektive ergeben sich jeweils sehr unterschiedliche Kriterien und Perspektivierungen, was die Bestimmung dieser Grenzen angeht. Wo liegen die Grenzen des Lebens beim ungeborenen Leben, und wo liegen sie beim »Muselmann«, dem schon von Hannah Arendt reflektierten Lebendig-Toten[11] der Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis? Man könnte hier eher von einem ganzen Bündel an Grenzen als von einer einzigen, klar gezogenen Grenzlinie sprechen. Diese Grenzziehungen sind nicht beliebig, sondern unterschiedlich funktional.

Die Vervielfachung der Grenzen ist eine schlechte Nachricht für die Freunde klarer Definitionen und territorialer Abgrenzungen; doch sie kann eine gute Nachricht für all jene sein, denen es um eine vieldimensionale, ja polylogische Sicht von Phänomenen zu tun ist. Es geht weniger um Essentialismen – die Essenz des Lebens, die Essenz der Demokratie – als um Kombinatoriken und Funktionen. Für Fassin stellt sich hier die Frage, ob sich das Leben im Sinne der Biologie mit dem Leben im Sinne der Biographie zusammendenken lasse[12], um so genauer der von ihm zentral gestellten Frage nach der Ungleichheit menschlicher Leben nachgehen zu können. Dabei ist die Biographie nicht von der Biologie her determiniert.

Gerade zu Beginn von Didier Fassins Ausführungen, aber auch schon im Titel seines Bandes – Georges Perecs La Vie mode d'emploi[13] läßt grüßen – sind die Anspielungen und Bezugnahmen auf literarische Texte sehr zahlreich, ja werden geradezu ostentativ verwendet. Immer wieder wird auf französische Autoren von Proust bis Perec, aber auch auf viele andere Schriftsteller zumeist europäischer Provenienz verwiesen. Erstaunlicherweise aber wird eben dort, wo die Frage nach dem Leben im Bereich des Biographischen gestellt wird, nicht auf die spezifischen Vorteile literarischer Texte zurückgegriffen. Denn anders als die Philosophie und auch anders als die Sozialwissenschaften oder die Ethnographie bildet die Literatur keine akademische Disziplin und muß daher auch nicht disziplinären Zwängen gehorchen. Sie besitzt eine ungeheure Freiheit und Vielfalt, wenn sie uns vom Leben erzählt, wenn sie uns in ästhetisch verdichteter Form das Leben nahe bringt. Sie arbeitet nicht mit klaren Definitionen dessen, was Leben ist, sondern eröffnet eine komplexe Spielfläche, auf welcher die unterschiedlichsten Deutungs- und Bedeutungsmuster von Leben erprobt werden können. Literatur und Leben sind in vergleichbarer Form vieldeutig und vielperspektivisch: Sie bedürfen daher einer viellogischen Herangehensweise, einer viellogischen Philologie[14].

Bei der Frage nach der Biographie greift Fassin nicht auf die polysemen, ebenso narrativen wie diskursiven Erprobungsräume der Literatur, sondern auf seine eigenen ethnographischen Forschungen und damit auf »eigene« Geschichten und wissenschaftliche Dispositive zurück, die anhand von Fällen und Fallstudien messbare Unterschiede konstruieren und auf diese Weise die Ungleichheit der Leben bestimmen können. Diese disziplinär verankerten nicht-fiktionalen Narrative (oder Fallstudien) mögen in der Lage sein, bestimmte Positionen oder Einsichten zu belegen, sie eröffnen anders als literarische Beispiele aber nicht eine vielfältige, wie das Leben nie begrenzbare Möglichkeit, die mobile Komplexität des Lebens offen auszulegen. Denn die Literaturen der Welt eröffnen als ästhetisch verfertigte Formen verdichteten Lebens Denk- und Wissensformen, die ähnlich wie das Leben selbst nicht reduzierbar und nicht monosemierbar sind, sondern beständig neue Deutungs- und Bewegungsspielräume aufzeigen und begehbar machen. Sie besitzen überdies nicht nur eine auf die Vergangenheit und die Gegenwart gerichtete Aufmerksamkeit, sondern eine prospektive, in die Zukunft gerichtete Dimension, die ausgehend von einer geschichtlichen Erfahrung nach den möglichen Zukünften fragt und fahndet. Literatur ist nicht auf ihre Memoria-Funktion beschränkt: Sie entfaltet ein Zukunftswissen.

Es ist daher sinnvoll, sozialwissenschaftlich, ethnographisch oder historiographisch konzipierte und empirisch untersuchte Fälle und Fallbeispiele mit ihren implizierten Deutungsmustern durch Beispiele aus der Literatur zu ergänzen und zugleich in ihren begrenzten Deutungsmöglichkeiten durch die polysemen Strukturierungen der Literatur zu erweitern, soll das Lebenswissen, Erlebenswissen, Überlebenswissen und Zusammenlebenswissen[15] der Literaturen der Welt gerade auch mit Blick auf die Grenzen des Lebens, aber auch auf die Grenzen zwischen unterschiedlichen politischen Systemen und Vorstellungswelten fruchtbar gemacht werden. Daher wird im Folgenden eine Vorgehensweise gewählt, in welcher Fallbeispiele aus einer historiographisch untersuchten Wirklichkeit mit jenen Wirklichkeiten verbunden werden, die literarisch beziehungsweise ästhetisch konzipiert wurden und sich einer Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten öffnen. Denn die Formen und Normen des Lebens sind nicht allein von disziplinierten und disziplinierenden Diskursen her zu bestimmen, sondern auch und vor allem durch jene Verdichtungsformen von Lebenswissen, welche die Literaturen der Welt quer durch die Jahrtausende, die Kulturen und die Sprachen bis in unsere Gegenwart hinein geschaffen haben.

Beginnen wir daher mit einem Fallbeispiel, das nicht nur der »großen« Geschichte, sondern der Fachgeschichte entstammt: jener der Romanistik und der Literaturwissenschaft. Es handelt sich hierbei um einen in den letzten Jahren zunehmend präziser erforschten Fall, der über lange Jahrzehnte verschwiegen und verdunkelt werden konnte, aber gerade durch die bis heute anhaltenden Vertuschungsversuche ständig an Forschungstiefe gewann. An ihm lassen sich die Wege von der Diktatur in die Demokratie, aber auch aktuelle Veränderungen der Logosphäre hinsichtlich der Grenzen zwischen Demokratie und autoritären Regierungsformen aufzeigen. Nachfolgend[16] sollen dann die Befunde dieses Fallbeispiels mit fiktionalen Modellen in Beziehung gesetzt werden.

Normalisierung (Hans Robert Jauss)

Der Fall Jauss kann uns in aller Eindringlichkeit (und hier in der gebotenen Kürze) zeigen, wie man in einer menschenverachtenden Diktatur in eine selbsternannte Elite des »Großgermanischen Reiches« aufsteigen, in Machtpositionen gelangen und sich nach dem Zusammenbruch des Herrschaftssystems in eine demokratische Gesellschaftsordnung zu integrieren und in der Demokratie binnen weniger Jahre wiederum in eine Elite einzugliedern vermag. Aufgrund zahlreicher Veröffentlichungen und detailreicher Darstellungen[17] - seit wenigen Jahren selbst auf der Wikipedia-Seite - ist hinlänglich bekannt, daß das Leben von Hans Robert Jauss (Jahrgang 1921) in zwei klar voneinander getrennte Teile zerfällt. Vom »ersten Leben« des später so renommierten Romanisten, Literaturtheoretikers und Mitbegründers der sogenannten »Konstanzer Schule« ist bekannt, daß er während seiner Schulzeit in Schwaben anders als viele seiner Mitschüler nicht »einfach« in die Hitler-Jugend eintrat, sondern erfolgreich bestrebt war, Leitungspositionen innerhalb der nationalsozialistischen Massenbewegungen zu übernehmen. Jauss wurde zwar nicht in eine Diktatur hineingeboren, nahm aber sehr rasch - und zweifellos im Einvernehmen mit seinen Eltern – die Aufstiegsmöglichkeiten wahr, welche die Nationalsozialisten nach ihrer »Machtübernahme« ihren bedingungslosen Gefolgsleuten offerierten. So befehligte er bereits vor seinem Aufstieg in der späteren Waffen-SS als Jungzugführer in Geislingen seinen »Jungzug Jauß« mit 160 Jungen[18] und faßte den Entschluß, noch vor dem geplanten Abitur als Freiwilliger nicht in die Wehrmacht, sondern aus Überzeugung in die SS-Verfügungstruppe, die Vorläuferorganisation der Waffen-SS[19], einzutreten. Sein Abitur wurde ihm, anders als später von ihm behauptet, auch ohne die eigentliche Reifeprüfung anerkannt.

Was folgte, war eine regelrechte Blitzkarriere durchaus außergewöhnlichen Zuschnitts, zweifellos eine der schnellsten innerhalb der Waffen-SS des sogenannten »Dritten Reiches« überhaupt. Zahlreiche Auszeichnungen und Beförderungen säumten den zunächst unaufhaltsamen Aufstieg des jungen Hans Robert Jauss innerhalb dieses sich als Elite begreifenden und durch seine Gräueltaten hervorstechenden Teiles des nationalsozialistischen Unterdrückungsapparates. Der SS-Anwärter (23.10.1939) wurde rasch zum SS-Schützen (25.3.1940), zum SS-Sturmmann (9.11.1940), zum SS-Unterscharführer (20.4.1941), zum SS-Oberscharführer (1.6.1941), zum SS-Untersturmführer der Reserve (22.9.1941), zum SS-Obersturmführer der Reserve (9.11.1943) und schließlich zum SS-Hauptsturmführer der Reserve (9.11.1944) befördert. Ausgezeichnet wurde er daneben mit zahlreichen Orden (vom Infanterie Sturmabzeichen in Bronze (1.4.1941) über das Eiserne Kreuz 2. Klasse (22.2.1942) sowie 1. Klasse (7.4.1943) bis hin zum Deutschen Kreuz in Gold (24.4.1944).

Bekannt ist ferner, daß er im SS-Regiment Deutschland, im SS-Totenkopf-Infanterie-Ersatz-Bataillon II Prag, in der Freiwilligen-Legion Niederlande, dem SS-Freiwilligen-Panzergrenadier-Regiment »Nederland« sowie als Führer des 58. Bataillon 33. Waffen-Grenadier-Division der SS »Charlemagne« gedient und im übrigen junge SS-Anwärter sowie andere Angehörige der Waffen-SS u.a. in der SS-Panzergrenadier-Schule Prosetschnitz/Kienschlag als Inspektionschef weltanschaulich indoktriniert und im nationalsozialistischen Gedankengut geschult hat. Wir kennen heute selbst die an der NS-Rassenideologie ausgerichteten Fragen der Abschlußklausuren seiner Kurse zu den "fremdvölkischen" Einheiten[20]. Jauss hatte nicht nur die menschenverachtende Sprache der Nationalsozialisten übernommen, er unterrichtete sie sogar und drillte alle, die in ihrem Gebrauch aufsteigen wollten.

Bezieht man all diese Fakten auf den damaligen Zeithorizont und die durchschnittlichen Karrieren seiner Zeitgenossen, so wird schnell evident: Hans Robert Jauss war kein Mitläufer, sondern ein Überzeugungstäter, ein eigentlicher Weltanschauungskrieger. Er tat seinen Dienst ebenso an der Ostfront, wo die Waffen-SS für ihre bestialischen Einsätze berüchtigt war, wie im sogenannten »Bandenkampf« in Kroatien, mithin bei der brutalen Verfolgung von Partisanen und Widerstandskämpfern, bei der die von ihm befehligte Einheit nachweislich in Kriegsverbrechen und Racheakte verwickelt war. Jauss beherrschte nicht nur das Vokabular der Nazis, er setzte es auch um und wandte es an.

Somit vertrat er nicht nur das nationalsozialistische Menschenbild mit seinem abgründigen Rassenhaß und seiner menschenverachtenden Barbarei, er propagierte nicht nur in Wort und Tat die unvergleichliche Bestialität der Machthaber des »Dritten Reiches«: Er verkörperte all dies als Sprachrohr einer NS-Diktatur, die in der Waffen-SS ihre genuine »Elite« herangezogen hatte. Als Offizier der Waffen-SS bildete er die künftige Elite eines Großdeutschen Reiches aus, das sich über die Welt zu herrschen anschickte. Er war ein hochdekorierter Offizier in einer Diktatur, die Millionen ihrer eigenen Staatsbürger vertrieb oder in den Tod führte, Millionen von Juden in ganz Europa auslöschte und die in ihrem Rassenhaß die Unterwerfung aller unterlegenen »Fremdvölker« betrieb. Unterwerfung und Zerstörung waren zentrale Ziele der Waffen-SS und ihrer Repräsentanten.

Doch Eroberung und Unterwerfung der Welt kamen ins Stocken. Die Befreiung - und nicht »Besetzung« - Deutschlands kam voran. Nach dem verlustreichen Rückzug von der Ostfront, bei dem er den Großteil seiner Untergebenen verlor, war Jauss zunächst in Süddeutschland untergetaucht. Bereits kurz nach Ende des Krieges begann er mit dem Versuch, seine Lebensgeschichte zu fälschen und die Seiten zu wechseln. Sein "ungewöhnliches Schreiben an die US-Militärverwaltung in Göppingen"[21] legt ein beredtes Zeugnis ab von seiner Absicht, sich den Siegern, den Alliierten, anzudienen und "umgehend in eine Freiwilligenformation der westlichen Alliierten"[22] einzutreten, um gegen – wie Jauss formulierte – "die Feinde des Weltfriedens"[23] und "gegen den Bolschewismus"[24] zu kämpfen. Die Vermischungen von »altem« und »neuem« Vokabular sind offenkundig: Jauss paßte sich der neuen Situation im Handumdrehen an und hoffte, bald auf der Seite der Sieger für den Weltfrieden aufmarschieren zu können.

Der so erfolgreiche Aufsteiger in der Waffen-SS hoffte nach der Kapitulation der Nazi-Diktatur, seinem erlernten Metier treu bleiben zu können, sich seiner Lebensgeschichte zu entledigen und binnen kürzester Frist nach dem Untergang des sogenannten »Dritten Reiches« zum selbsternannten Kämpfer für den Weltfrieden zu werden. Von einer blitzartigen »Läuterung« darf man hier wohl kaum ausgehen. Es handelte sich ganz offenkundig um eine Anpassung an die neuen Machtverhältnisse, deren Diskurse und deren Vokabular der ehemalige SS-Hauptsturmführer rasch zu erlernen suchte. Es begann eine unablässige Arbeit am Umschreiben des eigenen Lebens, die ihn bis ans Ende dieses Lebens begleiten sollte[25].

Was die Lebensgeschichte von Hans Robert Jauss für die Fragestellung, welche hier verfolgt wird, so aussagekräftig macht, ist nicht nur die Schnelligkeit der Wendung, ist nicht nur der Versuch, als erstes das eigene Leben umzuschreiben und dafür gefälschte Dokumente etwa bei seiner Immatrikulation an der Bonner Universität vorzulegen, sondern die Tatsache, daß sich die »Wandlung« und der rasche Weg von der Diktatur in die Demokratie als eine Art Selbst-Übersetzung vollzogen. An der immer wieder umgeschriebenen eigenen Lebensgeschichte wird nicht nur mit Blick auf den Aufstieg innerhalb der Diktatur deutlich, wie wichtig das Erlernen des »richtigen« Vokabulars ist, um von einem System in ein anderes wechseln zu können. Dies gilt ebenso für den Weg von der Demokratie in die Diktatur wie von der Diktatur in die Demokratie, deren bundesrepublikanische Sprachregelungen der noch junge Waffen-SS-Offizier nun rasch erlernte. Es ist, als wäre alles eine Frage der Lexik.

Zwar scheiterte sein Vorhaben, sich als Waffenbruder auf die Seite der Alliierten zu schlagen, ebenso wie sein Versuch, an der Universität Bonn kaum ein halbes Jahr nach der Kapitulation zu einem ganz »normalen« Studenten zu werden. Sein zweites Leben mußte rasch beginnen, doch fürs Erste holte ihn sein erstes Leben ein. Denn als hoher SS-Offizier wurde er von den alliierten Behörden in Deutschland steckbrieflich gesucht und mußte sich am 17. Dezember 1945, kaum mehr als einen Monat nach seiner Einschreibung und kurz vor seinem 24. Geburtstag, den Siegermächten stellen, die ihn unverzüglich in das speziell für SS-Mitglieder eingerichtete Internierungslager Recklinghausen überstellten.

Die sich anschließende längere Internierung als Offizier der Waffen-SS benannte Jauss später in seinen Lebensläufen in eine "Gefangenschaft" und schließlich eine "Kriegsgefangenschaft" um: Noch in seinem Interview mit Maurice Olender, das am 6. September 1996 in Le Monde abgedruckt wurde, bezeichnete er sich selbst als ehemaligen "prisonnier de guerre"[26]. Längst war die Lebensgeschichte zu einem Bestandteil des eigenen Lebens geworden. Jeder Hinweis auf ein Internierungslager war aus ihr getilgt worden, hätte ihn dies doch gerade zu Beginn seines zweiten Lebens als SS-Mann enttarnen und damit gefährden können. Jauss aber versuchte, sich nicht von der Masse der Deutschen zu unterscheiden: Er tat so, als wäre er nur ein einfacher Mitläufer gewesen.

Das Lager Recklinghausen durfte er erst gut zwei Jahre nach seiner Festnahme, am 2. Januar 1948, wieder als freier Mann verlassen. Ein derartiger »Rückfall« in sein »erstes Leben« sollte ihm fortan erspart bleiben. Die Zeit der Internierung war zweifellos eine Zeit der intensiven Lektüren und eine Zeit, in der sich Jauss ein neues Vokabular erarbeitete, auch wenn er in seinem unmittelbaren Umfeld im Lager noch immer von alten Kameraden aus der Waffen-SS - die Verbindungen sollten auch später nie ganz abreißen - umgeben war. Hatte Jauss während der beiden Jahre im Internierungslager Recklinghausen wirklich die Lehren aus der Geschichte und mehr noch aus seiner eigenen Geschichte gezogen? Das einzige, was hierzu mit Sicherheit gesagt werden kann, ist: Er hatte ein neues Vokabular gelernt und verstand es fortan, mit Wörtern und Begriffen umzugehen, die in die Logosphäre der Bundesrepublik Deutschland paßten.

Die mühsame und präzise Arbeit am Schreiben des eigenen Lebens, an der Anpassung der eigenen Lebens-Geschichte an die Geschichte, die den Rahmen für das eigene Leben bietet, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Arbeit des Literaturwissenschaftlers, dem es gelang, der Blitzkarriere in seinem ersten Leben nun eine weitere Blitzkarriere in seinem zweiten Leben folgen zu lassen. Nach einem zügig absolvierten Studium und einer bemerkenswerten Dissertation über Marcel Proust bei Gerhard Hess in Heidelberg (1952), sowie seiner Habilitation an derselben Universität (1957), schlossen sich rasch Stationen auf Professuren in Münster (1959) und Gießen (1961) an, bevor Hans Robert Jauss seinem Doktorvater an die neugegründete Universität nach Konstanz folgte. Dort war der einflußreiche Gerhard Hess, der Jauss stets alle Wege ebnete, nach seinem Wechsel von 1964 an den Bodensee 1966 zum Gründungsrektor der Universität geworden[27]. Seit 1966 konnte Jauss als einer der führenden Köpfe an dieser Reform-Universität arbeiten und gemeinsam mit Wolfgang Iser nicht allein die noch in Gießen mitbegründete Gruppe »Poetik und Hermeneutik« weiter ausbauen und nach Konstanz holen, sondern auch die programmatischen Grundlagen für die »Konstanzer Schule« legen. Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre baute Jauss konsequent seine Position im akademischen Teilfeld der Geisteswissenschaften aus und wurde zweifellos zu einem der national wie international renommiertesten Vertreter der Geisteswissenschaften in der damaligen Bundesrepublik Deutschland. Nichts im »zweiten Leben« schien mehr an das »erste« zu erinnern.

Wenig ist über die Zeit vor Antritt der Konstanzer Professur bekannt. Wie im Falle von »Poetik und Hermeneutik«, wo eine neuere Untersuchung mit Hilfe einer Abfolge von Interviews mit Mitgliedern der Gruppe selbst Einsichten in die Funktionsweise dieser einflußreichen Forschergruppe zu gewinnen suchte[28], verfügen wir fast ausschließlich über Zeugnisse, die aus dem inneren Kreis um Jauss stammen. Einige derartige stellungnahmen betreffen auch Jauss' erste akademische Stationen in Heidelberg, Münster oder Gießen. Folgen wir Hans-Jörg Neuschäfer, so war sein Doktorvater "schon als Assistent der eigentliche Chef des Romanischen Seminars"[29], eine sehr positiv gemeinte Aussage, die es freilich mit Vorsicht zu behandeln gilt. Denn Zeugnisse, die nicht von unmittelbaren Schülern und Freunden von Jauss stammen, sind in veröffentlichter Form nur schwer zu finden.

Seit der Veröffentlichung meines Bandes über den Fall Jauss im Juni 2016 haben mich bis Herbst 2017 über tausend Nachrichten in Form von Mails, Briefen und anonymen Zusendungen unterstützender wie – zum geringeren Teil – auch aggressiver Art erreicht. Sie sind in eine kleine Sammlung eingegangen, die im Verbund mit zahlreichen Rezensionen ein Bild davon vermittelt, wie virulent die Diskussionen rund um diesen »Fall«, der längst schon zum Paradigma Jauss geworden ist, geführt wurden und bis heute geführt werden. Nicht wenige dieser Botschaften und Nachrichten wie auch viele der Rezensionen oder Leserbriefe stammen aus dem unmittelbaren Kreis der Schüler und Anhänger oder von guten Freunden derselben. Gewiß wäre es spannend, hier eine feldsoziologisch ausgerichtete Analyse im Sinne der Arbeiten Pierre Bourdieus vorzunehmen, um dieses Teilfeld mit seinen Filiationen, Genealogien und Abhängigkeiten genauer zu untersuchen.

Unter den so zahlreichen Einsendungen gab es auch einige ausführliche Stellungnahmen, die von ehemaligen Kollegen oder Studierenden stammen und sich auf die Zeit in Heidelberg, Münster oder Gießen beziehen. So wurde in einer insgesamt 9 dicht bedruckte Seiten umfassenden Schrift, die auf den 28. Oktober 2016 datiert ist, aus dem Blickwinkel einer Studierenden an den Universitäten Heidelberg und Münster sehr detailliert das Bild eines Hochschullehrers gezeichnet, der allergrößten Wert darauf gelegt habe, einige wenige Getreue um sich zu scharen, die ihn wie "Gefolgsleute"[30] ständig begleiteten und mit ihm auch die Universitäten wechselten: "Sie bildeten gleichsam eine in sich geschlossene Riege, die schweigend hinter ihrem Meister stand"[31]. Jauss habe eigene Seminare von einem Assistenten abhalten lassen, diesen aber im Seminar selbst immer wieder vor seinen Studierenden korrigiert. Das normale "Fußvolk" der Studierenden habe Jauss nicht weiter interessiert, sie seien "für ihn Luft"[32] gewesen. Alles habe sich nur um seine Gefolgsleute gedreht.

Zweifellos gilt es, gegenüber derartigen Einschätzungen nicht weniger vorsichtig und kritisch zu sein als gegenüber den Urteilen aus dem engsten Zirkel um Jauss. Doch stimmen beide hier kurz referierte Positionen darin überein, daß es – und hierin läßt sich sehr wohl eine Parallele zwischen dem zweiten und dem ersten Leben von Jauss ziehen – in starkem Maße hinsichtlich der direkten Schüler um die Vermittlung des Gefühls ging, einer wirklichen Elite (die gleichwohl kontrolliert werden mußte) anzugehören. Diese Vorstellung von einer Elite und einem von Jauss auserwählten "Kreis" durchzieht auch die »Kleine Apologie«, mit der sich Hannelore Schlaffer in einem Beitrag für den Merkur als entschlossene Verteidigerin von Jauss zeigte[33]. Dabei ging es ihr nicht allein darum, ihn gegen jegliche Art von Kritik in Schutz zu nehmen und letztlich zu einem von seinen Kritikern verfolgten Opfer zu stilisieren, sondern auch generelle Fragen nach dem Sinn der deutschen Geschichte aufzuwerfen:

Heute, da kein einziger Gedanke an diesen Mann mehr unschuldig sein kann, denkt man bei solcher Art von Gemeinsamkeit an den Offizier, der eine Mannschaft führt - und gewiss ist der ausgeprägte Gemeinschaftssinn der Schule des Nationalsozialismus entsprungen, wie überhaupt alle schätzenswerten Eigenschaften von Jauß, seine Treue, Zuverlässigkeit und Fairness in Gefahr sind, nur von dorther gesehen zu werden. [...] Das ganze Land hat ja, als es die Männer nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs« wieder beschäftigte, die Erziehung zu den verbrecherischen Idealen und Tugenden des NS-Staats für sich und für den Aufstieg der Demokratie in Deutschland genutzt, um ein Land einzurichten, in dem es sich gut leben lässt. Es ist eine traurige Wahrheit: Aus guten Nazideutschen wurden gute Bundesdeutsche. Die heutigen Richter des Nationalsozialismus und auch die von Jauß sind Söhne - und inzwischen die Enkel, bald werden es die Urenkel sein. Sie genießen die Früchte von Charaktereigenschaften, deren Herkunft sie anklagen.[34]

Die pauschale Verteidigung von Jauss gegen seine »Richter« übergeht stillschweigend die Tatsache, daß frühe Kritiker wie Earl Jeffrey Richards von Jauss und dem, was man mit Fug und Recht das System Jauss nennen muß, übel behandelt und hart angegriffen wurden, wenn sie es wagten, Jauss' Zugehörigkeit zur Waffen-SS auch nur zu erwähnen. In der Öffentlichkeit richtete sich die Empörung nicht - wie eigentlich zu erwarten - gegen Jauss, sondern gegen Richards, den man im Fach - wie u.a. zahlreiche zumeist ausländische Beiträge zu seiner Festschrift[35] bezeugen - in Deutschland ins Abseits zu stellen suchte. Hannelore Schlaffers Apologie, die - wäre sie von einem Mann geschrieben - leicht der Misogynie bezichtigt werden könnte, reklamiert die guten Charaktereigenschaften wie Gemeinschaftssinn, Disziplin, Treue, Zuverlässigkeit oder Fairness hier ohne Umschweife als Resultate und Erfolge einer nationalsozialistischen Erziehung, deren Vermittlung durch die Generation der Väter, die sich von guten Nazideutschen in gute Bundesrepublikaner verwandelt hätten, ein neues Land habe entstehen lassen, in dem man gut leben könne.

Wie in nahezu allen Verteidigungsschriften für Jauss ist von den ungeheuren Zerstörungen, welche die Nazis anrichteten, noch vor allem von den Opfern, den eigentlichen Opfern eines Systems, in dem Jauss als Überzeugungstäter wirkte, nicht im Geringsten die Rede. Der "Hauptmann der Waffen-SS"[36] erscheint zu keinem Zeitpunkt als Täter, sondern vielmehr als zu Unrecht geschundenes Opfer, dem man dankbar sein müsse, daß es die positiven Charakterzüge der Nationalsozialisten an die Nachkriegsgeneration habe vermitteln können.

Ohne jeden Zweifel kann Hans Robert Jauss auch noch Jahrzehnte nach seinem Tod auf den Gemeinschaftssinn, die Disziplin, die Treue und die Zuverlässigkeit seiner unmittelbaren Gefolgsleute, aber auch eines weiteren Kreises von Freunden und Weggefährten zählen, auch wenn all dies – wie bereits die jahrelangen Angriffe auf Richards zeigten – nichts mit Fairness zu tun hat. Aber Fairness war wohl auch nicht eine der im NS-Staat so sehr vermittelten Tugenden. Treue und Loyalität gegenüber Jauss schlugen hingegen rasch und bis heute virulent[37] und im Verbund in direkte Angriffe gegen all jene "Selbstgerechten"[38] um, welche "Vermutungen und Verdächtigungen als Beweise"[39] ansähen, zumal "Richards und alle, die ihm folgten"[40], nichts hätten vorbringen können, was an Jauss' "Aufrichtigkeit"[41] hätte zweifeln lassen. Forschungsergebnisse wurden schlicht negiert und, wo irgend möglich, unterbunden. Die allgemeine Absicht, all jene in Mißkredit zu bringen, die sich um eine wissenschaftlich fundierte, kritische Aufarbeitung des Falles Jauss bemühten, ja der konkrete Versuch, auf telefonischem Wege ein von der Konstanzer Universitätsleitung in Auftrag gegebenes wissenschaftliches Gutachten zu unterbinden[42], folglich das Ziel, mit Mitteln der Zensur mißliebige Forschungen erst gar nicht zur Ausführung kommen zu lassen, zeigen in aller Deutlichkeit, auf welch militante Weise der Fall Jauss längst, gerade auch hinsichtlich seines Nachlebens, zum Paradigma geworden ist.

Denn längst geht es nicht mehr nur darum, den Täter zu einem Opfer zu stilisieren, das zum Gegenstand einer wohlorganisierten Kampagne geworden sei, wie dies in einem gänzlich unwissenschaftlichen und an Vorwürfen jeglicher Art reichen Pamphlet eines emeritierten Konstanzer Althistorikers jüngst vorgetragen wurde[43]. In diesem Dokument einer gezielten Verharmlosung von Jauss' Tätigkeiten in der Waffen-SS richten sich die Angriffe zwar vorrangig, wenn auch nicht ausschließlich gegen die Konstanzer Universitätsleitung, habe diese doch unverantwortlich und ohne Not einen unbescholtenen und verdienstvollen Konstanzer Universitätslehrer an den Pranger gestellt[44] . Es ist jedoch so, als ginge es mittlerweile nicht mehr um eine wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung der so lange von Jauss selbst und seinen Schülern verleugneten nationalsozialistischen »Vorgeschichte«, sondern um den Versuch, im Aufwind von Kräften, die nach einer Neubewertung des Nationalsozialismus streben, jede kritische Auseinandersetzung zu diskreditieren und letztlich mundtot zu machen.

Hans Robert Jauss hatte selbst noch in seinem bereits erwähnten und von ihm auf sorgfältigste Weise redigierten Interview für Le Monde[45] immer wieder angeführt, er habe sich letztlich wie ein typischer junger Deutscher verhalten[46]. Ein derartiges Argument ist mit Blick auf das »Elite« –Verständnis der Waffen-SS schon allein statistisch absurd. Dieses taktische Argument bequemer Selbstentschuldung – »Jauss war wie alle anderen« – wurde in neuerer Zeit nicht nur des Öfteren bekräftigt, sondern interessegeleitet auf eine ganze Generation ausgeweitet, die ähnlich belastet wie er gewesen sei und wie die Filbinger, Kiesinger, Oberländer oder Schneider/Schwerte in der Bundesrepublik erfolgreich Karriere gemacht hätten. Die Behauptung, Jauss sei wie alle Deutschen von der Begeisterung für Hitler mitgerissen worden, entbindet einen Rechtfertigungsdiskurs, der letztlich die Selbstentschuldung auf Kosten der Opfer und der geschichtlichen Tatsachen verlängert. In einem derartig pauschalen Legitimationsdiskurs, der sich in einer durch das Aufkommen identitärer, rechtsradikaler und offen neonationalsozialistischer Bewegungen deutlich veränderten Logosphäre ansiedelt, tauchen jenseits der zu Opfern stilisierten Täter die wirklichen Opfer, die oft bestialisch Ermordeten oder gnadenlos ins Exil Getriebenen, niemals auf. Sie werden gleichsam zum Schweigen, zum Verstummen gebracht.

Auch in diesem Sinne ist der Fall Jauss längst zum Paradigma Jauss geworden: An ihm wird deutlich, wie gewiß – nicht nur, aber eben auch – im akademischen Feld jene Normalisierung des Barbarischen, jenes billigende Verständnis für die Handlungsweisen von Tätern um sich greift, ohne die der Aufstieg nationalistischer, identitärer und rechtsradikaler Bewegungen und Parteien seit geraumer Zeit nicht denkbar wäre. Paradigmatisch ist der Fall Jauss folglich nicht allein mit Blick auf die Blitzkarriere in der nationalsozialistischen Diktatur, auf den raschen Aufstieg in der bundesrepublikanischen Demokratie oder auf die sich anschließende Phase des Verschweigens und Verleugnens, sondern auch und gerade hinsichtlich der sich mehrenden Versuche, den Fall Jauss zu normalisieren, zum Verschwinden zu bringen, historisch zu entsorgen. Am Paradigma Jauss wird folglich in mehrfacher Hinsicht deutlich, wie leicht und schnell die Grenzen zwischen Diktatur und Demokratie gequert und überschritten werden können. Die vorgeblichen Tugenden einer Diktatur waren in eine Demokratie übersetzbar: Es galt nur, die Lexik (und ein wenig Semantik) zu verändern. Längst ist eine Rückübersetzung wieder vorstellbar geworden, ja mehr noch: Sie ist bereits im Gange. Eine neue Logosphäre bildet sich heraus im Angesichte dessen, was in Deutschland oder Frankreich, Österreich oder Holland, Polen, Ungarn oder den Vereinigten Staaten wieder sagbar geworden ist: im Lichte dessen, was öffentlich gesagt werden darf oder (bisweilen sogar staatlich selbst im Ausland überwacht) verschwiegen werden muß.

Unterwerfung (Michel Houellebecq)

Auch der Protagonist des nun folgenden Teiles unserer Analyse ist ein Akademiker, ja genauer noch: ein Literaturwissenschaftler. er hat die große Liebe seines Lebens, den Verfasser der »Bibel« der Décadence und des Ästhetizismus, in den Gegenstand seiner philologischen Dissertation verwandelt, die er an der Université Paris IV – Sorbonne unter dem Titel Joris-Karl Huysmans, ou la sortie du tunnel einreichte und höchst erfolgreich verteidigte. Die Literaturwissenschaft und die Literatur bilden gleichsam die Gläser, durch welche in dem nachfolgend zu besprechenden Text eine außersprachliche Wirklichkeit betrachtet wird, welche zumindest einer französischen Leserschaft durch die Einbeziehung vieler zeitgenössischer wie historischer Namen und einer Vielzahl nachprüfbarer Details sehr vertraut ist. Die Mimesis einer denkbaren französischen Wirklichkeit des Jahres 2022 und die intratextuellen Bezüge zu einem Schriftsteller des Fin de siècle bilden so das Textgewebe, aus dem dieser Roman gefertigt ist.

Rolle und Funktion der Literatur werden im Verlauf dieses Werkes immer wieder diskutiert und auf die dargestellten Ereignisse bezogen. So heißt es bereits kurz nach dem incipit, in dem sich der Protagonist namens François seiner "triste jeunesse"[47] und seiner frühen Liebe zu Huysmans erinnert:

Seule la littérature peut vous permettre d'entrer en contact avec l'esprit d'un mort, de manière plus directe, plus complète et plus profonde que ne le ferait même la conversation avec un ami ─ aussi profonde, aussi durable que soit une amitié, jamais on ne se livre, dans une conversation, aussi complètement qu'on ne le fait devant une feuille vide, s'adressant à un destinataire inconnu. Alors bien entendu, lorsqu'il est question de littérature, la beauté du style, la musicalité des phrases ont leur importance; la profondeur de la réflexion de l'auteur, l'originalité de ses pensées ne sont pas à dédaigner; mais un auteur, c'est avant tout un être humain, présent dans ses livres, qu'il écrive très bien ou très mal, en définitive importe peu, l'essentiel est qu'il écrive et qu'il soit, effectivement, présent dans ses livres [...][48]

Diese Passage führt sehr schön die Vorgehensweise des realen, textexternen Autors Michel Houellebecq – 1958 auf La Réunion geboren, bei einer Großmutter und im Internat aufgewachsen, zweimal geschieden und als Erfolgsautor und enfant terrible der französischen Gegenwartsliteratur eher zurückgezogen lebend – vor Augen, der zunächst zwar seine Figur namens François über sein Verhältnis zu Huysmans und, in einem zweiten Schritt, zur Literatur im allgemeinen reflektieren läßt, dann aber in seinem Diskurs Aussagen platziert, welche die klare Grenzziehung zwischen textinternen und textexternen Sprecherpositionen zu verwirren und zu vervielfachen suchen. Houellebecq geht es hier keineswegs darum, sich für den »Inhalt« eines Textes zu Ungunsten der literarischen »Form« auszusprechen, sondern gleichsam eine direkte Stimme des »menschlichen Wesens« namens Autor innerhalb des Textes zu situieren und damit Möglichkeiten zu eröffnen, Aussagen sich selbst als textexternem Autor zu attribuieren. Es ist ein Verwirrspiel zwischen Romanfiguren und Autorfiguration, das der oft als Skandalautor Verschriene wiederholt sehr erfolgreich mit der Kritik gespielt hat.

Der Roman mit dem Titel Soumission, der am 7. Januar 2015, dem Tag des mörderischen Terroranschlags auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo, erschien, ist sehr präzise durchkomponiert und gerade hinsichtlich seiner Möglichkeiten effizient, ein ständiges Verwirrspiel zwischen textinterner Figur und textexternem Autor in Gang zu setzen. Houellebecq provoziert bewußt, als Rassist oder Frauenhasser, als Gegenaufklärer oder islamophober Anti-Intellektueller beschimpft zu werden. Erst das literarische Verfahren eines textuellen Quiproquo eröffnet alle Möglichkeiten einer polemischen, dem Autor oft vorgeworfenen provokativen Dimension seiner Texte, insofern nun dem Autor-Ich zugerechnet werden kann, was »eigentlich« nur François denkt und schreibt, lebt und ausagiert. Michel Houellebecq, der von Rita Schober wiederholt in eine literaturgeschichtliche Reihe mit dem Naturalisten Emile Zola gestellt wurde[49], nutzt damit auf wirkungsvolle Weise raffinierte Textverfahren, um seine Figur François immer wieder als Sprachrohr vermeintlich eigener Ansichten zu nutzen.

Es kann wohl kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Michel Houellebecq gegenwärtig "l'auteur le plus controversé de la littérature contemporaine française"[50] ist und auf der Grundlage seiner "approche philosophique" wie der "complexité scientifique" seines Schreibens zugleich "une théorie de la vie"[51] zu entfalten versucht. Dies bedeutet aber weder auf der Ebene einer solchen Lebenstheorie noch auf jener einer durch verschiedenste Äußerungen in Gang gesetzten Polemik, daß der reale Autor in seinen Texten direkt zu uns spräche und uns seine Ansichten unmittelbar kundtäte. Wir sollten uns vielmehr davor hüten, die Grenze zwischen textinternen und textexternen Erzählinstanzen niederzureißen. Denn bei François haben wir es mit einer von Houellebecq raffiniert geschaffenen Figur zu tun, die keineswegs für den textexternen Autor einsteht oder dessen Gewährsmann wäre. Autor und Autorschaft, Autorität und Autorisierung fallen bei diesem Erzählmodell nicht ineins. So müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die Wirkungsmacht sowie das Skandalisierungspotential des Schreibmodells Michel Houellebecqs in diesem wie auch anderen Romanen des französischen Schriftstellers von einer gezielten Vervielfachung und Verwischung der Grenzen ausgeht. Soumission ist kein gesellschaftspolitisches Traktat, basiert sehr wohl aber auf politischen und gesellschaftlichen, kulturellen und demographischen Analysen.

Gleichzeitig sollten wir nicht der Versuchung erliegen, Leben und Literatur strikt durch eine feste Grenze voneinander zu trennen. Denn beide sind aufs Engste miteinander verbunden, ohne selbstverständlich miteinander deckungsgleich zu sein. Gerade in den neueren Interviews - etwa in einem kurz nach dem Erscheinen von Soumission und den Anschlägen auf Charlie Hebdo mit Iris Radisch für die ZEIT geführten – hat Houellebecq selbst immer wieder ironisch darauf verwiesen, daß es zwischen ihm und seinen Figuren durchaus Unterschiede in den Einschätzungen und Überzeugungen gebe[52]. Mit seinem Leben aber haben all diese Figuren sehr viel zu tun. Literatur und Leben sind auf den unterschiedlichsten Ebenen friktional miteinander vermittelt.

Dies wird auch auf der Textebene selbst eindrücklich in Szene gesetzt. Die enorme Bedeutung, welche Leben und Werke des Joris-Karl Huysmans für die literarische Figur François besitzen, bildet dank ständiger Einblendungen von Textfragmenten Huysmans das narrative wie diskursive Rückgrat von Houellebecqs Roman. Der décadent steht freilich nicht für die Komfortzone des Literaturwissenschaftlers: Er bleibt für diesen nicht nur intimer Freund, sondern stetiger Herausforderer in einer Gegenwart ohne Sinn, Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit.

Durch die Literatur wird zugleich die Grenze zwischen Leben und Tod durchlässig, geht es in ihr doch um den "contact avec l'esprit d'un mort"[53]. Insofern beinhaltet und transportiert die Literatur nicht nur ein Lebenswissen und Überlebenswissen, sondern zugleich auch ein Weiterlebenswissen[54], das die vermeintlich so scharfen Grenzen zwischen Leben und Tod unterläuft. Die Literatur verfügt hier über eine sehr spezifische Form des Wissens, die durch Lektüre angeeignet werden kann: Die Grenzen des Lebens sind von den Grenzen des Lesens nicht unabhängig. Huysmans wird dadurch keineswegs zu einem Wiedergänger oder zu einem Huysmans redivivus; vielmehr werden Leben und Werke des Autors von A rebours für François zu einem Interpretament, in dessen Koordinatensystem sich das Handeln der Romanfigur immer wieder verortet und befragt. Mit Blick auf andere Romane des französischen Autors wird diese Konfiguration zum "laboratoire d'une vie"[55] und dieses literarische Laboratorium seinerseits zu einem Modell der Welt, zu einem WeltFraktal[56], in dem uns in einem literarisch modellierten Mikrokosmos durch Prozesse wechselseitig projizierter Selbstähnlichkeit grundlegende Einsichten in einen textexternen Makrokosmos ästhetisch zu Bewußtsein gebracht werden können. Huysmans ist durch die wiederholten Lektüren und die literaturwissenschaftlichen Recherchen von François in der Gegenwart präsent und eröffnet Möglichkeiten, denkbare Wege in die Zukunft abzustecken.

Der Literaturwissenschaftler präsentiert sich uns von Beginn an als ein zwar mit den Regeln im akademischen Feld wohlvertrauter Spezialist für die französische Literatur des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Huysmans, ist ansonsten aber von einer völligen Sinnleere erfaßt, die mit seiner eigenen Tätigkeit als Universitätslehrer beginnt. Denn literaturwissenschaftliche Studien führten, das wisse man ja, "à peu près à rien"[57]. Es handele sich um ein System, das nur der eigenen Reproduktion von Spezialisten diene und ansonsten über 95 Prozent Abfall ("déchet")[58]) produziere, wenn man einmal außer Acht lasse, daß gebildete Studentinnen auf dem Arbeitsmarkt größere Chancen hätten, etwa als Verkäuferinnen angestellt zu werden.

Auch noch in anderer Hinsicht funktioniert die Universität als geschlossenes System. François selbst wählt seine Liebespartnerinnen jeweils semesterweise aus der Studentinnenpopulation aus, wobei er zeitweise polygame, später eher monogame Frauenbeziehungen bevorzugt. Sehr rasch zeigt sich François' Misogynie, eine grundlegende Frauenfeindlichkeit, die Frauen lediglich als rasch dem physischen Verfall preisgegebene Lustobjekte betrachtet. Gleichaltrige Kolleginnen kommen da für den Mittvierziger schon lange nicht mehr wirklich in Frage. Dies wird an einigen Szenen durchgespielt, die nicht nur – wie oft bei Houellebecq – sexually explicit sind, sondern brutal aus patriarchalischer Sicht Frauen in ihrem körperlichen Verfall vorführen – ein Element, das im weiteren Verlauf des Romans innerhalb polygamer Beziehungen im Schutze des Islam resemantisiert werden wird. Abendländische Misogynie und morgenländische Frauenausbeutung werden im Frankreich des Jahres 2022 schon bald eine unheilige Allianz eingehen.

Da weite Teile von Soumission im universitären Milieu spielen, lassen sich in diesem Text zweifellos Elemente eines Campus-Romans ausmachen: es ist eine kleine Welt mit ihren Regeln, mit ihren Hierarchien, ihren oft erstaunlichen Gepflogenheiten. Zugleich ist Der Campus als Small World – um die Titel der Romane von Dietrich Schwanitz und David Lodge miteinander zu kombinieren – der Mikrokosmos einer größeren Welt, in der wichtige politische Gewichtverschiebungen, ja seismische Erschütterungen vor sich gehen. In dem Maße, in dem sich das politische Leben Frankreichs in den Roman drängt, wird aus dem Campus-Roman ein historischer Roman, in dem sich historisch beglaubigte Figuren französischer Politikern mit ihren leicht identifizierbaren Namen um eine erfundene Zentralfigur gruppieren, die in Gestalt von François gewiß keine Identifikationsfigur darstellt.

Denn aus seiner Perspektivik, die von (mehr oder minder aufgeklärtem) Rassismus, Kolonialismus, Antisemitismus und Misogynie gekennzeichnet ist, wird eine Welt in Umbrüchen skizziert, in welcher nach langen Jahren einer als langweilig beschriebenen Machtteilung zwischen eher linken und eher konservativen Regierungen nun, im Jahre 2022, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Frankreich ebenso die rechtsradikalen und identitären wie die islamistischen und fundamentalistischen Bewegungen auf dem Vormarsch sind und letztlich die bisherigen demokratischen Parteien an den Rand drängen. Der historische Roman mutiert hier zum Zukunftsroman und begibt sich in ein futur proche von hoher Aktualität und keineswegs ausschließbarer Wahrscheinlichkeit. Insofern ergeben sich Züge einer Dystopie, droht die bisher zwischen zwei politischen Lagern fein säuberlich aufgeteilte Welt doch nun in gewalttätige Auseinandersetzungen, in einen blutigen Bürgerkrieg und in einen letztlich demokratiefeindlichen, diktatorischen Regimetypus abzugleiten. Denn wir sehen Frankreich nicht an der Schwelle zum Bürgerkrieg: Der Bürgerkrieg hat vielmehr im Vorfeld der Présidentielles bereits begonnen.

Der Einbruch der politischen Veränderungen in die heile akademische Welt erfolgt bereits zu Beginn des zweiten Teiles des Romans, als während einer netten Gartenparty der Spezialisten für die französische Literatur des 19. Jahrhunderts plötzlich und in unmittelbarer Nähe mitten in Paris längere Schußwechsel sowie Detonationen hörbar werden. Man ist beunruhigt, aber man spricht noch etwas über Huysmans oder Mallarmé, verabschiedet sich, hofft, daß die eigene Wohnung nicht betroffen sein möge, enthält sich ansonsten aber jeglicher Stellungnahme. Niemand scheint sich hier für die Aufrechterhaltung eines demokratischen Systems engagieren zu wollen.

Überhaupt scheinen viele die Lage nicht für gefährlich zu halten. Staatliche Sicherheitsbeamte mit umgehängten Maschinenpistolen schlendern angeregt plaudernd und mit heiterer Mine vorbei; François fällt es schwer zu begreifen, warum sie sich um nichts zu kümmern scheinen: "»ils font absolument comme si de rien n'était«."[59] Längst hat eine grundlegende Normalisierung stattgefunden, in welcher der Ausnahmezustand[60] den Blick auf eine Welt jenseits der Demokratie freigibt. Und rasch zeigt sich, daß einer der Kollegen mit dem sprechenden Namen Lempereur über beste Verbindungen zur identitären Bewegung verfügt, ja möglicherweise seit längerer Zeit schon als einer ihrer Vordenker fungiert. Nichts in der akademischen Welt regt sich, um für den Erhalt der Demokratie einzutreten oder gar zu kämpfen: Sie ist kein Hort des Widerstands in diesem zeitkritischen Roman voll beißender Ironie.

So zeigt sich in dieser von Houellebecq hintergründig arrangierten Szenerie bereits modellhaft, daß eine Vielzahl von Grenzen in Richtung Diktatur überschritten werden, ohne daß von der Welt der Akademiker auch nur die geringste Aktivität zugunsten demokratischer Prozesse und Verfahren ausginge. Man fürchtet nur um die eigene Sicherheit, um das eigene Hab und Gut. François bleibt ruhig und wie stets lakonisch: Er begleitet Lempereur und nimmt durchaus mit Interesse zur Kenntnis, in welchem Denksystem und Diskursuniversum sich dieser Kollege bewegt, der von seiner Machstellung innerhalb rechtsradikaler Bewegungen offenkundig auch finanziell stark profitiert und an der Vorbereitung eines Bürgerkrieges maßgeblich beteiligt ist. Deutlich lesbar wird in Lempereurs luxuriös ausgestatteter Wohnung der Titel einer Schrift: »PREPAREZ LA GUERRE CIVILE«[61].

Das eher sanfte, kollegiale Eintauchen in ein rechtsradikales Diskursuniversum führt vor, wie sehr sich die Logosphäre im Vorfeld der anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich zwar unmerklich, aber nachhaltig verändert hat. Ebenso im rechtsradikalen Spektrum und bei Marine Le Pens Front National wie in den unterschiedlichen islamistischen Bewegungen ist 2022 der Antisemitismus wieder gesellschaftsfähig – und dies nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch im Alltagsleben. François wird davon direkt betroffen, denn seine derzeitige Sexpartnerin Myriam, deren junge und erregende Körper – und Geschlechtsteile er liebt und in unterschiedlichen Stellungen der Unterwerfung nutzt[62], wird wie ihre ganze Familie in einer immer offener antisemitischen Atmosphäre zum Verlassen Frankreichs und zur Flucht nach Israel gezwungen. François bedauert dies zwar, denn keine andere junge Studentin gestaltet seine Liebesnächte und Wochenenden so angenehm und aufregend wie Myriam, der er viel Sympathie entgegenbringt. Aber als ihrer Familie schließlich keine andere Wahl mehr bleibt, als nach Israel zu emigrieren, gewöhnt er sich rasch an den Gedanken: Er akzeptiert die neue Situation in einem zutiefst antisemitischen Frankreich ohne Murren.

Eine weitere der vielen Grenzen ist damit überschritten. Die Logosphäre verändert sich immer rascher hin zu militanten Ausdrucksformen von Exklusion, wobei die Konfrontationen nicht nur verbal, sondern zunehmend gewalttätig ausgetragen werden. Auf der Ebene sexueller Befriedigung hält François sich im Übrigen schadlos: Wie andere männliche Protagonisten Houellebecqs findet auch hier, wie Rita Schober lange vor dem Erscheinen von Soumission formulierte, eine "Unterwerfung der Geschlechter in der Liebeskonkurrenz unter die Marktgesetzlichkeit"[63] statt.

Der Roman setzt diesen zu Beginn noch fast unmerklichen Prozeß eines immer schnelleren Überschreitens von Grenzen in Richtung auf eine in ihren Konturen noch offene autoritäre Herrschaft meisterhaft in Szene. Der anfängliche Campus-Roman ist zu einem historischen und dieser zu einem politischen Roman geworden, ohne daß die Verbindungen zwischen diesen einzelnen Subgattungen gekappt würden. Der Campus ist eine Welt, so wie François schon mit seinem Namen für die Welt der Franzosen einsteht. In vielen kleinen, fast unmerklichen Schritten zeigt sich, wie eine Demokratie in eine Diktatur beziehungsweise in ein autoritäres Regime übersetzt werden kann. Dazu bedarf es nur weniger grundlegender Veränderungen, wohl aber einer Querung zahlreicher Grenzen.

Längst ist in der Konvivenz verschiedener politischer, kultureller und religiöser Gemeinschaften ein Zusammenlebenswissen geschwunden, ja fast schon verschwunden, das von unterschiedlichen Seiten absichtsvoll zersetzt wird, um ein friedliches Zusammenleben populistisch aufkündigen zu können. Die demokratischen Strukturen funktionieren noch, die Präsidentschaftswahlen werden abgehalten und trotz aller Probleme auch in der zweiten Runde durchgeführt. Die traditionellen demokratischen Parteien Frankreichs verschwinden dabei jedoch: Eine völlig neue Parteienlandschaft beginnt sich zu konstituieren. Der Roman macht es schwer, ja bewußt unmöglich, die genaue Grenze zu bestimmen, an welcher eine Demokratie sich in ihr Gegenteil verkehrt. Es gibt diese eindeutige Grenze nicht.

An die Bilder vom Zusammenbruch einer alten Ordnung, die gerade den Beginn des dritten Teiles durchziehen, setzt sich immer mehr die Silhouette einer neuen Ordnung, welche dank der gut vorbereiteten Strukturen der islamischen Bruderschaften nur einen einzigen wirklichen Nutznießer kennt. Spätestens mit dem Wahlsieg über Marine LePen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen sehen wir unter der geschickten Führung des neuen Präsidenten Ben Abbes eine autoritäre Führung islamischen bis islamistischen Zuschnitts heraufziehen, die es versteht, die von ihr angestrebten politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen mit dem Verweis auf die Herstellung rascher politischer Stabilität zu versehen. Das Versprechen der Stabilität lockt: Allein auf diese Weise scheint ein Bürgerkrieg noch vermeidbar zu sein.

Nach dem Wahlsieg von Ben Abbes werden binnen kürzester Zeit die Sorbonne und andere staatliche Universitäten gleichgeschaltet, die Frauen ihrer Dozentenstellung beraubt und islamistische Universitätsstrukturen geschaffen, ohne daß sich innerhalb wie außerhalb der universitären Mauern auch nur im geringsten Widerstand bemerkbar machen würde. Die Universität erscheint erneut als Fraktal der gesamten französischen Gesellschaft. Im Gegenteil: Die Einführung der Polygamie knüpft nahtlos an die Träume vieler Mitglieder des Professorats und Patriarchats an, wobei den Professoren nach Bedarf Studentinnen zur Verfügung gestellt werden, die sich aufopferungsvoll ihren Studien wie ihren neuen Aufgaben jeweils mit und ohne Burka zuwenden. Die Unfähigkeit zur Liebe bei Männern wie bei Frauen, wie wir sie in den vorgängigen Romanen Michel Houellebecqs überdeutlich skizziert finden, wird hier als Suche nach Liebe gleichsam religiös instrumentalisiert und in eine scheinbar höhere Sphäre gehoben: Staatlich beglaubigte Kupplerinnen kümmern sich erfolgreich um die Eheanbahnungen im Zeichen des Islam.

Auch auf anderen Ebenen gewinnt das Pariser Patriarchat in Soumission der nunmehr religiös begründeten Geschlechterhierarchie zahlreiche positive Seiten ab. Die ehemaligen Kolleginnen sind längst zu herausragenden Köchinnen geworden, die sich zur Freude ihrer Männer ganz auf ihre neue alte Aufgabe am Kochtopf konzentrieren. Misogynie und Phallogozentrismus der westlich geprägten europäischen Gesellschaften gehen hier geradezu sanft und widerspruchsfrei in eine kulturell und religiös fundierte Männerherrschaft ein, die sich den neuen Gesetzen gerne unterwirft, weil sie sich dadurch die Frauen zu unterwerfen vermag. Die Arbeitslosigkeit in Frankreich sinkt, denn die Frauen verschwinden zunehmend vom Arbeitsmarkt: Ihr Platz ist fortan (wieder) zuhause. Eine neue, nicht länger vom Bürgerkrieg bedrohte stabile Gesellschaftsordnung autoritären Zuschnitts ist noch im Wahljahr 2022 an die Stelle der längst überkommenen Gesellschaften westlich-demokratischer Tradition getreten. die Demokratie hat sich selbst abgewählt.

Nicht nur innerhalb der Universitätslandschaft, sondern auch außerhalb des akademischen Feldes hat sich zunächst fast unmerklich das Leben und das Zusammenleben der Menschen verändert. François hat zunächst Mühe zu erkennen, woran diese grundlegende Veränderung etwa auf der Straße, im Alltagsleben, beim Shopping in den großen Einkaufszentren, festgemacht werden kann und sichtbar wird. Der Franzose flaniert zu Beginn von Teil IV, unmittelbar nach der Machtübernahme der Bruderschaft, durch die Straßen von Paris und registriert aufmerksam, daß es weniger die Geschäfte selbst sind als "le public en lui-même qui avait, subtilement, changé"[64]: Die Veränderungen zeichnen sich erst langsam ab und werden nicht sofort bemerkbar:

Et l'habillement féminin s'était transformé, je le ressentis immédiatement sans parvenir à analyser cette transformation; le nombre de voiles islamiques avait à peine augmenté, ce n'était pas cela, et il me fallut presque une heure de déambulation pour saisir, d'un seul coup, ce qui avait changé: toutes les femmes étaient en pantalon. La détection des cuisses de femmes, la projection mentale reconstruisant la chatte à leur intersection, processus dont le pouvoir d'excitation est directement proportionnel à la longueur des jambes dénudées: tout cela était chez moi tellement involontaire et machinal, génétique en quelque sorte, que je n'en avais pas pris immédiatement conscience, mais le fait était là, les robes et les jupes avaient disparu. Un nouveau vêtement aussi s'était répandu, une sorte de blouse longue en coton, s'arrêtant à mi-cuisse, qui ôtait tout intérêt objectif aux pantalons moulants que certaines femmes auraient pu éventuellement porter; quant aux shorts, il n'en était évidemment plus question. La contemplation du cul des femmes, minime consolation rêveuse, était elle-aussi devenue impossible.[65]

Im Reich der Zeichen[66] ebenso non-verbaler wie verbaler Art reagiert das System der Mode[67] wie ein kollektives Frühwarnsystem, das die grundlegenden Veränderungen durch sanfte Anpassungsmodi manifestiert. Seismographisch genau übersetzen sich die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in Verrückungen der Grenzen von Sichtbarkeit und Sichtbarmachung am weiblichen Körper, der als Spielfläche männlicher Projektionen neu vermessen, kartographiert und semantisiert wird. Dabei sind es gerade nicht die ostentativen und semantisch klar definierten weiblichen Kleidungsstücke wie Schleier oder Burka, sondern die Vervielfachungen von vestimentären Grenzziehungen, welche die politischen Transformationen in alltägliche Grenzen übersetzen, an denen die Bewegungen zwischen einer Demokratie westlichen Typs und einem autoritären Regime nach islamistischem Vorbild in die Sprache weiblicher Kleidung übertragen werden. Es sind folglich keineswegs allein diskursive und verbale Übersetzungen, sondern Zeichensysteme unterschiedlichster Art, innerhalb derer die Translationsprozesse ablaufen. Das gesamte System kultureller Ausdrucksformen wird neu kodiert. Eine neue Politik, aber auch eine neue Poetik und Polemik der Grenze ist entstanden.

Die Allgegenwart von Joris-Karl Huysmans ist auch in diesen Teilen des Romans ungebrochen, in denen es um die radikale Umgestaltung einer demokratischen Gesellschaft geht sowie um den Umbau der Europäischen Union in ein künftiges Europa nach dem Vorbild des Römischen Reiches - freilich unter der Vorherrschaft des Islam. Fgrançois selbst lernt als ständiger Leser des Verfassers der »Bibel« aller Décadents buchstäblich immer neue Seiten an dem von ihm verehrten französischen Autor kennen. Huysmans Verhältnis zum Christentum hat Folgen für François' Beziehung zum Islam.

Dabei wird zunehmend deutlich, daß Huysmans nicht nur einer Reihe sexistischer Einstellungen von François Pate stand, sondern auch in seiner ferventen Glaubenssuche Strukturen weitergab, die es dem hochspezialisierten Literaturwissenschaftler später ermöglichen werden, sich der religiösen Herrschaft über die französische, wie auch perspektivisch über alle europäischen Gesellschaften freudig zu unterwerfen. Ganz so, wie es dem deutschen Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauss gelang, sich allen Veränderungen anzupassen, die sich innerhalb seines Zeithorizonts ereigneten – von der nationalsozialistischen Diktatur über den Kampf gegen den Bolschewismus bis hin zur bundesrepublikanischen Demokratie und ihren Reformbewegungen –, gelingt es auch dem Literaturwissenschaftler François, seine Lektüren den jeweiligen Umständen anzupassen. Daher überrascht es letztlich auch nicht, daß er sich nach einigem Zögern und Abwarten den neuen, islamistischen Spielregeln an der Sorbonne unterwirft und noch ein letztes Mal einen längeren Text über Huysmans verfaßt, um den er gebeten wurde und der eine neue systemkonforme Lesart des Autors von En route – mit dessen als Motto vorangesetztem Zitat der Roman beginnt – vorzulegen. Soumission stellt hier als Campus-Roman der Literaturwissenschaft von einer politisch-literarischen Warte aus ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis aus, das im Übrigen auch Huysmans Kanonisierung zum Klassiker des Ästhetizismus und der Décadence nicht unbeschädigt läßt. Denn die Politik der Unterwerfung beinhaltet stets nicht nur eine Polemik, sondern auch eine Poetik der Unterwerfung – und umgekehrt.

Der Ausklang des vierten und der Beginn des fünften und letzten Teiles entfalten diese Relation auf bohrende, insistierende Weise. Dies erfolgt vor dem Hintergrund einer politischen Entwicklung, in der sich die Vertreter der Identitären wie des Front National, die doch einst gegen die Islamisten kämpften und einen Bürgerkrieg gegen letztere, aber auch gegen die demokratisch verfaßten Institutionen anzettelten, nun das Lager gewechselt haben und sich der neuen Sammlungsbewegung unter Ben Abbes und dessen islamischer Führung anschließen. Der neue französische Präsident befleißigt sich einer taktisch klugen und ausgewogenen Sprache, mit deren Hilfe für die ehemalige demokratische Mehrheitsgesellschaft viele Brücken gebaut werden können, um von einem demokratischen zu einem nicht-demokratischen Gesellschaftssystem überzusetzen. Die Idee Europas ist – wie schon unter den deutschen Nationalsozialisten – aus diesem Diskurs keineswegs verschwunden: Sie ist in der islamischen Bruderschaft ebenso allgegenwärtig wie etwa in jener Einheit der Waffen-SS, in der Hans Robert Jauss als Führer des 58. Bataillon der der 33. Waffen-Grenadier-Division der SS Charlemagne seinen Dienst tat, einer Einheit, die für ein vereintes Europa nicht unter dem Halbmond, sondern unter dem Hakenkreuz kämpfte. Das Römische Reich war schon für viele politische Systeme – von Napoleon bis zu Mussolini oder Hitler – das historische Modell. Am Ende stand in Europa jeweils der Zusammenbruch.

Die explizit vom britischen Kulturphilosophen Arnold J. Toynbee[68] geborgte Grundthese des Romans, derzufolge Kulturen nicht durch Angriffe von außen, sondern durch ihre Zersetzung im Inneren zugrunde gehen, erfaßt zweifellos die Rolle von Literaten wie Huysmans ebenso wie jene von Akademikern, die sich wie François nahezu bruchlos und ohne größere Schwierigkeiten nicht nur veränderten Universitäts-, sondern auch Gesellschaftssystemen anzupassen vermögen. Problemlos kann die Sorbonne von einem Jahre zuvor bereits zum Islam konvertierten Rektor Rediger, in dessen Figur sich die unterschiedlichen antidemokratischen Kräfte bündeln und zugleich mit einem hohen Bildungsstand verbinden, übernommen und in eine gegenüber dem neuen Staatswesen dienende Funktion überführt werden. Die Gleichschaltung der Universität, wie sie hinsichtlich der Universität Freiburg ebenfalls von einem hochgebildeten Rektor namens Martin Heidegger durchgeführt wurde, orientiert sich dabei zum einen an der von ihm gewonnenen Einsicht, daß Europa längst schon geistigen Selbstmord begangen habe[69], sowie an der Überzeugung, das höchste Glück des Menschen bestehe in seiner Unterwerfung – womit hier ebenso die sexuelle Unterwerfung der Frau unter die Macht des Patriarchats wie die Unterwerfung der Menschheit unter die Gebote einer islamistisch konsekrierten Diktatur verstanden wird. Unterwerfung wird an dieser Stelle zu einem transzendenten Begriff, durch welchen die Selbstaufgabe des Individuums normalisiert und religiös gerechtfertigt wird.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, daß auch François – im Übrigen unter der populärphilosophischen Anleitung eines kleinen Büchleins von Rektor Rediger – zum Islam konvertiert und mit diesem Schritt ein zweites Leben beginnt, "la chance d'une deuxième vie, sans grand rapport avec la première"[70]. Der Schlußsatz des Romans – "Je n'aurais rien à regretter."[71] – steht für den vollzogenen Transformations-, Konversions- und Übersetzungsprozeß, der in der fiktionalen Figur von François eine Vielzahl von Parallelen zu der historischen Figur des Hans Robert Jauss aufweist: obwohl und gerade weil beide die Vielzahl an Grenzen zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Demokratie und Diktatur, auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Richtung überschreiten. Beide haben diese Grenzziehungen nicht nur Grenzlinie für Grenzlinie überschritten, sondern für sich selbst nachträglich unpassierbare Grenzen errichtet und ihr erstes Leben auch sauber von ihrem zweiten abgetrennt. Und beide, so scheint es, hatten sie nichts zu bereuen und niemals etwas bereut. Das "rien à regretter"[72] wird zur Chiffre eines Lebens, das sich als kontinuierliches Leben nicht mehr zu denken vermag und sich zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlichen Systemen unterworfen weiß. Politik und Polemik der Unterwerfung bedürfen stets, so scheint es, einer Poetik der Selbstunterwerfung, die keine Reue kennt.

Zerstörung (Cécile Wajsbrot)

Mit ihrem noch unveröffentlichten Roman Destruction schloss die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot[73] Ende 2017 ihren weit gespannten narrativen Zyklus »Haute Mer« - der von den Romanen Conversations avec le maître (2007)[74], L'île aux musées (2008) [75] Sentinelles (2013)[76], Totale éclipse (2014)[77] sowie ihrem Abschlußroman Destruction[78] gebildet wird und sich über eine Schaffensperiode von mehr als einem Jahrzehnt erstreckt – auf ästhetisch überzeugende Weise ab. In diesem Abschlußroman fließen die insistierenden Bilder des gesamten Zyklus auf großartig verdichtete Weise zusammen und überlagern sich eindringlich in ihren Isotopien des Suchens und Sich-Verfehlens, der ständigen Bewegungen zwischen den Städten Paris und Berlin[79] oder der Metaphorik von Sonnenfinsternis und soleil noir[80]. Destruction vereinigt diese Bilder und Bedeutungsebenen in einem literarischen Entwurf von Störung, Zerstörung und Selbstzerstörung, in welchem der zunächst unmerkliche Übergang von der Demokratie zur Diktatur zentral gestellt ist. Denn was zunächst als Störung begann, endet in der Zerstörung und Selbstzerstörung eines demokratisch verfaßten Gemeinwesens, mit dem eine ganze Epoche zu Ende zu gehen scheint.

Zu Beginn des Romans noch gilt ein Rückfall in die politischen, militärischen und menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts als ausgeschlossen. Denn die Ich-Erzählerin wußte sich lange Zeit mit ihrer Generation vereint in dem Glauben, keinen Rücksturz mehr in das Jahrhundert der Kriege, der Katastrophen und der Migrationen erleben zu müssen, da man nunmehr im Zeichen von Wissenschaft und Fortschritt diese Vergangenheit mörderischer Diktaturen ein für alle Mal hinter sich gelassen habe:

Je me souviens que nous croyions aux chiffres, ceux des mathématiques, ceux de l'économie. Nous pensions qu'ils régnaient sur le monde, qu'il suffisait de les connaître - oserai-je dire de les déchiffrer? Nous les considérions comme des sortes de divinités - un peu comme les Mayas qui associaient chaque nombre à un dieu - oubliant que nous les avions créés. Nous pensions qu'avec eux, nous pourrions réguler le monde, repérer des règles et des lois, des cycles, gouverner les pays. Certains, grâce aux chiffres, vivaient mieux que d'autres, et j'en faisais partie. Nous croyions que l'avenir et les chiffres étaient liés. Le vingt-et-unième siècle, pensions-nous, serait celui du progrès, de la science, de la conquête de l'espace que le vingtième avait à la fois initiée et stoppée. Nous pensions avoir tourné la page des catastrophes du siècle précédent. Malgré quelques signes - des avions qui s'écrasaient sans explication, des tempêtes d'une force inconnue, des épidémies nouvelles - nous pensions avoir surmonté le plus grave.[81]

Recht rasch begreift man im weiteren Fortgang der Lektüre jedoch, daß der abstrakte Gedanke an die ein für alle Mal abgeschlossene Vergangenheit der Diktaturen mittlerweile der Erfahrung der konkreten Möglichkeit ihrer Wiederkehr Platz gemacht hat und daß längst – im Umfeld von Wahlen in Frankreich, die nicht präzise zeitlich eingeordnet werden – ein Übergang in eine autoritäre Herrschaft eingesetzt hat, der alle vorherigen Gewißheiten der Ich-Erzählerin und ihrer Generation zerstört. In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß Vergangenheit und Gegenwart nicht fein säuberlich voneinander getrennte oder überhaupt trennbare Einheiten darstellen, sondern die beiden Zeitebenen auf intime Weise miteinander verbunden sind: "Comment tracez-vous une frontière étanche entre le présent et le passé? Je vous parle maintenant, bien sûr, mais des images me hantent, viennent me visiter, celles de la vie d'avant."[82] Das vergangene Leben ist im gegenwärtigen noch immer gegenwärtig als eine Vergangenheit, die nicht enden kann und nicht enden will.

Wie auf der individuellen Ebene die Bilder der Vergangenheit ständig in der Gegenwart präsent und präsentisch sind, gilt eine derartige Vergegenwärtigung auch auf der kollektiven Ebene, jener einer "mémoire collective récente"[83], in welcher die Bilder früherer Katastrophen sehr wohl in einem kollektiven Erinnerungsraum gespeichert bleiben. Dabei verweist der hier verwendete Begriff der mémoire collective auf seinen Schöpfer Maurice Halbwachs[84] und damit über dessen Tod im Konzentrationslager Buchenwald hinaus auf die Katastrophe der Nazi-Barbarei und der Shoah selbst. Gerade die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch zwischen beiden und der Zukunft sind weder statisch noch undurchlässig, sondern beruhen – entgegen der Überzeugung, im Zahlen- und Fortschrittsoptimismus die Zukunft genau berechnen zu können – auf ständigen Wechselwirkungen und Projektionen. Wir haben es hier nicht mit eindeutigen Grenzlinien, sondern mit widerspruchsvollen Spannungsfeldern zu tun.

Von den allerersten Zeilen des literarischen Schlußsteins des Romanzyklus »Haute Mer» an, ist das sicherlich zentral gestellte Bild der Sonnenfinsternis allgegenwärtig, mit dem sich die französische Autorin bereits im vierten, also unmittelbar vorangehenden Roman Totale éclipse intensiv auseinandergesetzt hatte. In Destruction wird dabei nicht nur auf die exakte zahlenmäßige Berechenbarkeit von Sonnen- oder Mondfinsternissen hingewiesen, sondern auch auf die Tatsache aufmerksam gemacht, daß diese Konstellationen in unserem Planetensystem symbolische Bedeutungsebenen transportieren, welche durch ihre astronomische Kalkulierbarkeit keineswegs rational auszublenden sind. Sonnenfinsternisse verheißen in allen Menschheitskulturen nichts Gutes.

Eine besondere Bedeutungsebene wird in den Roman aber durch den Hinweis darauf eingeblendet, wie unmerklich stets diese Vorgänge einsetzen und wie schwer wahrnehmbar der Beginn einer Sonnenfinsternis ist, selbst wenn wir den Eintritt der Scheibe des Mondes auf die noch sichtbare Sonnenoberfläche genau vorherbestimmen können. Der Aspekt des Unmerklichen wird dabei in den Vordergrund gerückt:

Il y a une vingtaine d'années, aux points les plus élevés de Paris, nous étions des centaines à scruter le ciel en attendant le moment où l'ombre apparaîtrait enfin, imperceptible puis grandissante. C'était en pleine ville - et la vue sur Paris s'étendait sur l'étagement des toits, toile de fond urbaine, des formes connues se détachaient, les couleurs de Beaubourg, les tours régulières de quelques églises, la voûte des gares, l'image d'une capitale construite et apaisée qui avait fait l'essentiel de son travail et qui pouvait se reposer, maintenant, et vivre de ses rentes. [...] Dos tourné à l'édifice, nous regardions vers le ciel, dans l'attente du moment solennel. C'était l'ultime année du siècle, bientôt nous allions entrer dans l'ère actuelle - même si le monde où nous sommes désormais n'a plus grand-chose en commun avec le monde précédant. Mais ce n'était pas le changement de siècle que nous attendions - pas encore - ce jour-là, c'était dans le ciel que tout devait se passer, le trajet des planètes allait coïncider et la lune, projeter son ombre, exactement, sur la surface du soleil.

Il y avait tout un groupe, assez nombreux, qui commentait les fausses alertes, des nuages qui menaçaient de voiler le soleil, sifflant à leur apparition, comme s'ils assistaient à un match de football. Je me demande si ce n'était pas eux, déjà, les porteurs de la destruction.[85]

Die Totale éclipse dieser in Teilen West- und Mitteleuropas vielbeobachteten Sonnenfinsternis wohl vom 11. August 1999 weist buchstäblich mit ihren Kernschatten voraus auf ein neues Jahrhundert und vielleicht sogar Jahrtausend, für welche die Zeichen dieser allgemeinen Verfinsterung symbolhaft stehen könnten. Das Vorrücken des Dunklen auf der Oberfläche des Lichts wiederholt sich auf vielen Ebenen des Romans, der wie ein Schlußstein den Bogen eines Rückblicks auf das 20. Jahrhundert krönt und zugleich den Blick auf eine Zukunft freigibt, die entgegen aller anfänglichen Hoffnungen wohl nicht unbedingt mehr Licht in das Dunkel einer Menschheitsgeschichte zu bringen verspricht, die noch immer im Schatten des vergangenen Jahrhunderts steht. Alle Zeichen werden zu möglichen Vor-Zeichen des Künftigen: So wie Walter Benjamins Engel der Geschichte in seinem Vorwärtsgetriebensein durch den Sturm vom Paradiese her auf die Überreste all jener Katastrophen blickt, die sich auf seinem Weg angehäuft haben. Denn im Rückgriff auf ein "Bild von Klee, das Angelus Novus heißt"[86], hielt Walter Benjamin fest:

Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.[87]

So wie die Katastrophen des 20. Jahrhunderts ganz im Sinne Benjamins in Cécile Wajsbrots Romanzyklus allgegenwärtig sind, so zeigen sich in Destruction auch immer wieder Bilderfolgen, in denen sich unmerklich die kommenden Katastrophen andeuten und abzeichnen. Denn dunkle Vögel belagern die Stadt und nehmen sie ein: "Les corbeaux envahissent la ville. Ils sont arrivés petit á petit, à mesure des années. Imperceptiblement."[88] Erneut liegt hier der Schwerpunkt auf dem Unmerklichen. Wer vermag zu erkennen, wann alles begonnen hat, wann die Katastrophe begann?

Schritt für Schritt dringen Überwachungs- und Unterdrückungsstrukturen, ähnlich wie die Raben, in Cécile Wajsbrots Roman in die Strukturen des lange Zeit demokratischen Gemeinwesens ein. An den verschiedenartigsten Grenzen zwischen Demokratie und Diktatur bemerken wir, wie die Übersetzungsprozesse aus dem einen ins andere Regime, aus dem einen ins andere Jahrhundert, vorgenommen werden und die vorhandenen Strukturen zerstören. Zunächst versucht man, die Vergangenheit zu kontrollieren, indem man Zeugnisse aus der Vergangenheit ebenso vernichtet wie die materiellen Träger des Vergangenen auf der individuellen, familiären oder kollektiven Ebene. Mit Waffengewalt werden die Bücher aus den öffentlichen wie den privaten Bibliotheken entfernt; Familienalben werden konfisziert und zerstört.

Aber auch die Bildungsinstitutionen unterschiedlichster Art, von den Schulen über die Bibliotheken bis hin zu den Museen oder Opern, werden umstrukturiert und ihrer Inhalte beraubt. Dabei bedient man sich bisweilen populistischer Verfahren und läßt abstimmen[89], daß die Kenntnis der Geschichte weniger wichtig sei als die der Geographie, da man schließlich vor allem wissen müsse, wo man lebe; daß die Beschäftigung mit der Kunst ein Luxus sei, insofern Operationen für das Volk wichtiger seien als derlei künstlerische Beschäftigungen; oder daß die Restaurierung historischer Gebäude weniger wichtig sei als das Vorantreiben eines sozialen Wohnungsbauprogramms, für welches identische Wohnblöcke in schlechtester Qualität aus dem Boden gestampft werden. Die im Grunde unkörperlichen, ubiquitären Stimmen des neuen Regimes versuchen, eine Mauer zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu errichten, um die Zukunft zu kontrollieren.

Eine Fülle von Grenzen wird auf dem Weg in die Diktatur sowie im Schlagschatten autoritärer Kontrollmechanismen überschritten. Im Fokus der um sich greifenden Zerstörung, die durch Massendemonstrationen untermauert wird, steht immer wieder die Sprache. Auf sie versucht man einzuwirken, um sie herum errichtet man Grenzen. Wozu noch Fremdsprachen lernen, so fragen die allgegenwärtigen Stimmen, wenn doch die eigene Sprache das wichtigste ist?

Bezüglich der Muttersprache ist keine komplexe und vieldeutige Sprache erwünscht, sondern ein Idiom, wie es für die Ziele und Zwecke der Propaganda nützlich ist: Es geht um "un véhicule utilitaire transportant leur propagande, un ensemble de mots á sens unique"[90]. Hypotaktische Strukturen werden ausgemerzt, parataktische Strukturen auf die immer selbe Satzgliederung reduziert, komplexe Sinnbildungsprozesse wo möglich unterbrochen, andere Sprachen weitestgehend ausgeblendet, ältere Texte beseitigt. Neben der Kontrolle von Vergangenheit und Zukunft sowie der Sprache und damit des Denkens werden Gemeinschaftssinn und Disziplin, Loyalität und Treue gefördert und zugleich im Kampf gegen jegliche Dissidenz durch alle Formen autoritärer Überwachung einer Zensur, einer Zerstörung unterworfen, die ubiquitär zu sein scheint. Überall wird »Platz geschaffen«, wird »ausgekehrt« und »sauber gemacht«: Überall werden Säuberungen durchgeführt und alles, was auf andere Möglichkeiten des Denkens und Handelns verweisen würde, ausgelöscht und zerstört. Denn das Schlüsselwort all dieser Entwicklungen ist die destruction, die Zerstörung, die keine Spiel-Räume mehr läßt.

Das erste, was unwiederbringlich zerstört wird, ist - wie wir sahen - der unerschütterliche Glaube einer ganzen Generation, daß nach der Barbarei des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, daß nach den Diktaturen der Nationalsozialisten, aber auch vieler anderer faschistischer Bewegungen in Europa ein weiteres Abgleiten in eine autoritäre Herrschaft niemals mehr möglich sein würde. Nach einer am 13. Februar veröffentlichten Umfrage der Universität Bielefeld halten es knapp 50 Prozent der Deutschen wieder für möglich, daß sich ein Holocaust, also die Vernichtung der europäischen Juden, wiederholen könnte[91]. Ist die Möglichkeit einer Insel nicht schon der wichtigste Schritt hin zur Existenz dieser Insel?

In jedem Falle bleibt von den Glaubenssätzen der Generation der Ich-Erzählerin nichts mehr übrig, lehrt doch die lange nicht zu Bewußtsein kommende oder unterdrückte Einsicht in die Veränderungen, welche eine neue Diktatur heraufgeführt haben, daß die Diktaturen aus der eigenen Geschichte definitiv nicht verschwunden sind. Dabei handelt es sich ganz offenkundig keineswegs um eine von außen kommende oder von fremden Mächten aufoktroyierte Gewaltherrschaft. Die Diktatur, deren Schergen meist zu dritt und bewaffnet ohne Vorankündigung in Privatwohnungen eindringen und nach Belieben Dokumente und Erinnerungen zerstören, die in Zivil in öffentlichen Transportmitteln patrouillieren und jedes Gespräch der zum Schweigen verurteilten Staatsbürger unterbinden, die alle Kulturveranstaltungen gegen nur anfänglichen Widerstand gleichgeschaltet haben und fortan effizient kontrollieren, ist zweifellos eine Gewaltherrschaft, die von innen kommt. Sie ist, parallel zur oben erwähnten Toynbee'schen These, aus der eigenen Gesellschaft entstanden und speist sich aus der wachsenden Absage an die vorherige, vermeintlich so stabile Gesellschaftsordnung. Es handelt sich, wie alle Stimmen im Roman zum Ausdruck bringen, folglich um eine selbstgewählte Diktatur, die sich offenkundig nach der Sonnenfinsternis der Jahrtausendwende ausbreitete und alle Hoffnung darauf zerstörte, daß sich die schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts niemals mehr wiederholen würden.

Welche Überzeugungen aber können dann noch an die Stelle der zerstörten Hoffnungen treten? Müssen es nun nicht Vorstellungen von zyklisch wiederkehrenden Heimsuchungen sein, von Entwicklungen, die - vergleichbar mit den im Text des Öfteren auftauchenden Naturkatastrophen[92], die freilich menschengemacht sind - die Menschen unausweichlich, wenn auch nicht unvermittelt treffen? Nichts war überraschend gekommen, nichts hatte sich wie eine plötzliche Plage über die Menschen hergemacht: Alles war vielmehr schon längst präsent gewesen, als Präsenz der Vergangenheit im Präsens der eigenen Wahrnehmung:

Ce n'était pas du jour au lendemain, tout était là et nous ne l'avions pas vu. Ou plutôt, nous l'avons vu mais sans vouloir y croire. Et le vide des rues, ce soir-là, était l'image de notre désertion des derniers temps. Ces régimes absolus qui semblaient destinés à des pays lointains où nous n'irions jamais ou qui semblaient appartenir définitivement à notre passé, allions-nous les connaître à notre tour? Y avait-il, dans l'histoire, une masse de dictature, toujours la même, à répartir entre les époques et les lieux, tour à tour sur tel continent ou dans telle capitale? Terminée la contemplation du malheur des autres en soupirant avec un peu de soulagement – c'est loin, ce n'est pas nous – avant de passer à autre chose et d'oublier. Désormais, ce seraient les autres qui nous plaindraient quelques instants et nous qui ne pourrions recueillir qu'un peu de compassion mais sans secours véritable.[93]

Die Wiederkehr der Diktatur, von der wir uns doch im Raum oder in der Zeit sicher getrennt glaubten, läßt Bilder einer regelmäßigen Wiederkehr von autoritären Regimen entstehen, die sich gleichmäßig über die Geschichte und die Kontinente verteilen würden. Gewiß: Die Diktatur, die nun in Frankreich ausgebrochen ist, besitzt keinen eigentlichen "chef unique" und ist eine Diktatur ohne Diktator[94]. Aber ihre radikale Umgestaltung der vorherigen Gesellschaft, ihre fundamentale Zerstörungswut, die sich gegen alles Vergangen-Präsente wendet, machen deutlich, daß man längst unter den Bedingungen einer allgegenwärtigen Diktatur lebt, die vor allem und an erster Stelle die von ihr gesetzten Grenzen zu sichern und zu überwachen sucht.

Die Literatur, die in einer solchen Zeit entsteht, gerät nicht zu einem simplen "manuel de survie en milieu dictatorial"[95]; aber Züge eines derartigen Handbuchs des Überlebenswissens in diktatorischen Zeiten sind in Cécile Wajsbrots Destruction durchaus wahrnehmbar. Denn es geht um eine möglichst präzise Beobachtung der Veränderungen auf den Ebenen von Sprache und Verhalten, von politischem Diskurs und Schreibweise, von Symboliken und Ritualen. Das literarische Schreiben vermerkt die kleinsten Veränderungen, die – um es mit einem noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges von Nathalie Sarraute geprägten Begriff zu sagen – kaum wahrnehmbaren Tropismen[96], die sich in alle Ausdrucks- und Handlungsebenen der Menschen einschleichen. Oft sind es Tropismen, welche Individuen wie Gemeinschaften über Grenzen bewegen: auch die Tausende von Grenzen zwischen Demokratie und Diktatur.

Weit mehr als ein Handbuch des Überlebenswissens in Zeiten beginnender Diktatur, bildet die Literatur aber ein künstlerisch hochdifferenziertes Frühwarnsystem, das die Zeichen der Zeit, die Vergangenheit in der Gegenwart, aber auch Vergangenheit und Gegenwart in der Zukunft befragt und analysiert.

Denn die Literaturen der Welt wenden sich seit ihren vielkulturellen Anfängen im Gilgamesch-Epos, seit ihren verdichteten lyrischen Formen im chinesischen Shi-Jing, nicht allein der Vergangenheit und ihrer Erinnerung zu, sondern entwerfen weit über die Memoria-Funktion hinaus die möglichen Zukünfte von Gesellschaften, deren Veränderungen sie möglichst präzise registrieren und in ästhetisch verdichteter Form sinnlich erfahrbar machen. Die Literaturen der Welt sind gerade darum für uns heute überlebenswichtig, weil sie uns sinnlich ins Bewußtsein rufen, wie prekär zu jedem Zeitpunkt die Gewißheiten sind, denen wir uns für die Dauer bestimmter Zeiträume anzuvertrauen pflegen. Sie zeigen uns nicht nur retrospektiv, sondern vor allem prospektiv auf, in welchem Maße es aufmerksam zu sein gilt, wenn wir uns im Grenzbereich und mehr noch im Spannungsfeld von Demokratie und Diktatur bewegen.

Denn es wäre grundverkehrt, auf die eine Grenze zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Demokratie und Diktatur zu setzen. Keine Grenze, schon gar keine Mauer, nichts schützt uns vor dem unmerklich beginnenden Hereinbrechen einer Vergangenheit, die nicht mehr ist und - wie es das Paradigma Jauss zeigt – doch nicht aufhören kann zu sein.

Die Vervielfachung der Grenzen zwischen Demokratie und Diktatur führt uns zugleich vor Augen, daß wir ständig vervielfachte Grenzziehungen in diesem Spannungsfeld überqueren können, ohne uns stets dieser Tatsache bewußt sein zu müssen. Zeigte uns der Fall Jauss nicht nur den Fall von Hans Robert Jauss, sondern in den anhaltenden Auseinandersetzungen auch die paradigmatische Bedeutung dieses Falles, an dem sich höchst unterschiedliche Wertesysteme und Gesellschaftsentwürfe dokumentieren, so verweist dieser Fall zugleich auf die Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der sich Menschen zwischen der schlimmsten Barbarei und einer Nachkriegsdemokratie bewegen können, in der sie die Präsenz der Vergangenheit gegenwärtig halten. Denn das Schweigen und Verschweigen des ersten Lebens hält dieses im zweiten Leben gegenwärtig, da es sich zu keinem Zeitpunkt öffentlich und kritisch zu reflektieren bereit ist und jeden die Vergangenheit beleuchtenden Diskurs zu ersticken sucht.

Das Spannungsfeld zwischen dem ersten und zweiten Leben des Literaturwissenschaftlers François zeigt im Roman Michel Houellebecqs, wie sehr das Abgleiten in ein religiös fundiertes autoritäres System immer schon da war und sich nur jener jeweils spezifischen Interessenlagen, Bedürfnisse und Befriedigungen zu bedienen brauchte, um ein demokratisches System zum Einsturz zu bringen und die Sinnleere einer Gesellschaft mit ebenso eindeutigen wie einseitigen Sinnangeboten zu füllen. Die Ich-Erzählerin in Cécile Wajsbrots Roman wiederum führte uns vor Augen, in welchem Maße die Literatur in der Lage ist, jene spezifischen Veränderungen seismographisch zu erfassen, die sich beim Überqueren verschiedener Grenzen zwischen Demokratie und Diktatur ausmachen lassen.

Der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar hat in seiner Erzählung »Casa Tomada« vor dem Hintergrund der Militärdiktaturen seines Landes und seines Kontinents die vielen kleinen Grenzverletzungen und das fatale Überlassen von Räumen gezeigt, die letztlich dazu führen, daß eine Familie in ihrem Haus Raum um Raum aufgibt, bevor sie von ihrem Wohnsitz gänzlich vertrieben ist. In einer graphischen Umsetzung dieser Erzählung[97] wird am Ende vorgeführt, wie die Worte des Erzählers zu Vertriebenen an ihrem eigenen Ort geworden sind, ohne doch zu wissen, wann alles begonnen hat. Ist erst einmal die Vertreibung aus dem Haus vollzogen, verwandeln sich die vielen Grenzen in ein stabile Grenzziehung des Ausgeschlossenseins. Dann erst schließen sich die Grenzen und lassen zur Katastrophe werden, was mit einem fast unmerklichen Eindringen begann. In einer Zeit, in der dieses eindringen bereits massiver geworden ist und die alte Barbarei neuen Zulauf erhält, wächst die Aufgabe von Literatur und Literaturwissenschaft.

Denn die prospektive Macht der Literaturen der Welt zeigt uns immer wieder in aller Deutlichkeit auf, wie nahe uns das vermeintlich in Raum und Zeit so Distante ist und wie wachsam es zu sein gilt, um das Verdrängte, das nur scheinbar verschwunden ist, an der Wiederkehr durch kritische Auseinandersetzung zu hindern. Denn was nicht mehr ist, war doch einmal vergangene Zukunft und trägt diese Potentialität noch immer gerade in dem, was wohl niemals aufhören kann zu sein. Im lebendigen, interaktiven Archiv und Archipel der Literaturen der Welt verfügen wir quer zu den Kulturen, quer zu den Jahrtausenden, quer zu den Sprachen und Regierungsformen über ein Lebenswissen, das für Gegenwart und Zukunft zu erschließen die Aufgabe der Literaturwissenschaft ist. Die Zukünfte der Literatur sind – weit jenseits von Jauss, weit jenseits von François – auch die Zukünfte einer Philologie, die sich ihrer Aufgabe wieder bewußt wird, überlebenswichtig und überlebensnotwendig zu sein.

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_____. Hans Robert Jauß. Jugend, Krieg und Internierung. Konstanz: Konstanz University Press 2016.

 

Submetido em 02/01/2019; Aceito em 30/03/2019


Notas

[2] Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Beschleunigung. Kann die Globalisierung ein Ende nehmen? In: Kaube, Jürgen / Laakmann, Jörn (Hg.): Das Lexikon der offenen Fragen. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 2015, S. 32-33.

[3] Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In (ders.): Gesammelte Schriften. Bd. 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980

[4] Fassin, Didier: Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2016. Übersetzt von Christine Pries. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 15 f.

[5] Auden, W.H.: The Age of Anxiety. A Baroque Eclogue (1947). Princeton: Princeton University Press 2011.

[6] Vgl. zur potentiellen Gefährlichkeit identitärer Diskurse das Unterkapitel »Die Logik des Weder-Noch und die Zeit der »Täten« in Ette, Ottmar: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001, S. 467-475.

[7] Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam 151996

[8] Fassin, Didier: Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung, S. 10.

[9] Ebda., S. 181.

[10] Vgl. ebda., S. 20.

[11] Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 193-195.

[12] Ebda., S. 22.

[13] Perec, Georges: La Vie mode d'emploi. Paris: Hachette 1978.

[14] Vgl. Ette, Ottmar: Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur. Berlin: Verlag Walter Frey - edition tranvía 2013.

[15] Vgl. Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004; ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz (ÜberLebenswissen II). Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005; ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab (ÜberLebenswissen III). Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010.

[16] Eine ähnliche Vorgehensweise der Vernetzung zwischen Fallbeispielen und Literatur habe ich im neunten und abschließenden Kapitel, »Differenz Macht Toleranz. Acht Thesen und der Versuch eines Dialogs zwischen Wissenschaft und Politik«, gewählt in Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen (2004).

[17] Vgl. u.a. Westemeier, Jens: Hans Robert Jauß, 12.12.1921 Göppingen - 01.03. 1997 Konstanz: Jugend, Krieg und Internierung. Wissenschaftliche Dokumentation. Geiselhöring, im Mai 2015. Universität Kostanz: Homepage 2015 <http://www.aktuelles.uni-konstanz.de/presseinformationen/2015/48>; ders.: Hans Robert Jauß. Jugend, Krieg und Internierung. Konstanz: Konstanz University Press 2016; sowie Ette, Ottmar: Der Fall Jauss. Wege des Verstehens in eine Zukunft der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016.

[18] Westemeier, Jens: Jugend, Krieg und Internierung, S. 19.

[19] Ebda., S. 22-26.

[20] Ebda., S. 82.

[21] Westemeier, Jens: Kindheit, Jugend und Internierung, S. 109.

[22] Ebda.

[23] Zit. nach ebda.

[24] Zit. nach ebda.

[25] Vgl. das Kapitel »Eine unablässige Arbeit am Leben(-Schreiben)« in Ette, Ottmar: Der Fall Jauss, S. 31-43.

[26] Jauss, Hans Robert: »L'étrangeté radicale de la barbarie nazie a paralysé une génération d'intellectuels« (6.9.1996).

[27] Der Romanist Gerhard Hess war 1950-1951 Rektor der Heidelberger Universität sowie Präsident der einflußreichen Westdeutschen Rektorenkonferenz, von 1955 bis 1964 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG sowie ab 1964 Gründungsausschußvorsitzender der Universität Konstanz, deren Rektor er von 1966 bis 1972 war.

[28] Vgl. Boden, Petra / Zill, Rüdiger (Hg.): Poetik und Hermeneutik im Rückblick. Interviews mit Beteiligten. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2017.

[29] Neuschäfer, Hans-Jörg: Erich Auerbach im Kontext der Zeit. Mit einem Rückblick auf Heidelberg in den Fünfzigern. In: Bormuth, Matthias (Hg.): Offener Horizont. Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft (Göttingen) I (2014), S. 219.

[30] N.N.: Brief vom 28.10.2016, S. 6.

[31] Ebda.

[32] Ebda.

[33] Schlaffer, Hannelore: Hans Robert Jauß. Kleine Apologie. In: Merkur 805 (Juni 2016), S. 79.

[34] Ebda., S. 84 f.

[35] Vgl. Buschinger, Danielle / Rosenstein, Roy (Hg.): De Christine de Pizan à Hans Robert Jauss. Etudes offertes à Earl Jeffrey Richards par ses collègues et amis à l'occasion de son soixante-cinquième anniversaire. Amiens: Presses du «Centre d'Etudes Médiévales de Picardie» 2017.

[36] Ebda., S. 79.

[37] Vgl. Neuschäfer, Hans-Jörg: Erich Auerbach im Kontext der Zeit. Mit einem Rückblick auf Heidelberg in den Fünfzigern, S. 219 f.

[38] Ebda., S. 220.

[39] Ebda.

[40] Ebda.

[41] Ebda.

[42] Vgl. Ette, Ottmar: Der Fall Jauss S. 143.

[43] Vgl. Schuller, Wolfgang: Anatomie einer Kampagne. Hans Robert Jauß und die Öffentlichkeit. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2017.

[44] Diese Metapher wird aufgenommen in der rundweg positiven Rezension des Gaddis-Spezialisten Ingenday, Paul: Die Universität als Pranger. Heimlichkeiten statt Transparenz: Wolfgang Schuller über die postumen Debatten um seinen ehemaligen Konstanzer Kollegen Hans Robert Jauß. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Frankfurt am Main) 4 (5.1.2018), Feuilleton S. 10. Weitere positive Rezensionen sind, wie aus dem System Jauss zu hören, bereits verfaßt.

[45]Vgl. hierzu wie zu den historischen Kontexten ausführlich Olender, Marucie: Race sans histoire. Nouvelle édition. Paris: Galaade 2009.

[46] Vgl. Jauss, Hans Robert: »L'étrangeté radicale de la barbarie nazie a paralysé une génération d'intellectuels« (6.9.1996).

[47] Houellebecq, Michel: Soumission. Roman. Paris: Flammarion 2015, S. 11.

[48] Ebda., S. 13 f.

[49] Vgl. das Kapitel »Renouveau du réalisme?« in Schober, Rita: Auf dem Prüfstand. Zola - Houellebecq - Klemperer. Berlin: Walter Frey 2003, S. 195-207.

[50] Diop, Ibou Coulibaly: Mondialisation et monde des théories dans l'oeuvre de Michel Houellebecq. Mit einer ausführlichen deutschsprachigen Zusammenfassung. Berlin: Verlag Frank & Timme 2018, S. 7.

[51] Ebda. Diese Theorie des Lebens selbst erfolge geradezu unwillentlich (S. 155).

[52] Houellebecq, Michel: Der Tod ist nicht auszuhalten. Interview von Iris Radisch. In: Die Zeit (Hamburg) (23.1.2015).

[53] Houellebecq, Michel: Soumission, S. 13.

[54] Vgl. Ette, Ottmar: Welterleben / Weiterleben. On Vectopia in Georg Forster, Alexander von Humboldt, and Adelbert von Chamisso. In: Daphnis (Amsterdam) 45 (2017), S. 343-388.

[55] Diop, Ibou Coulibaly: Mondialisation, S. 14.

[56] Vgl. Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017.

[57] Houellebecq, Michel: Soumission, S. 17,

[58] Ebda.

[59] Ebda., s. 69.

[60] Zur Normalität des Ausnahmezustands vgl. Agamben, Giorgio: Stato di eccezione. Homo sacer, II, 1. Torino: Bollati Boringhieri 2003.

[61] Houellebecq, Michel: Soumission, S. 74.

[62] Ebda., s. 108-113.

[63] Schober, Rita: Auf dem Prüfstand, S. 260.

[64] Houellebecq, Michel: Soumission, S. 185.

[65] Ebda., S. 185 f.

[66] Barthes, Roland: L'Empire des Signes. Paris - Genève: Flammarion - Skira 1970.

[67] Barthes, Roland: Système de la Mode. Paris: Seuil 1967.

[68] Houellebecq, Michel: Soumission, S. 268.

[69] Ebda. S. 269.

[70] Ebda., S. 315.

[71] Ebda.

[72] Ebda.

[73] Vgl. den ihr gewidmeten Sammelband von Böhm, Roswitha / Zimmermann, Margarete (Hg.): Du silence à la voix. Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot. Göttingen: F&R unipress 2010.

[74] Wajsbrot, Cécile: Conversations avec le maître. Paris: Editions Denoël 2007.

[75] Wajsbrot, Cécile: L'île aux musées. Paris: Editions Denoël 2008. Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Cécile Wajsbrot: »L'Ile aux musées« oder die verborgenen Choreographien der Anwesenheit. In: Böhm, Roswitha / Bung, Stephanie / Grewe, Andrea (Hg.): Observatoire de l'extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2009, S. 257-270.

[76] Wajsbrot, Cécile: Sentinelles. Paris: Christian Bourgois 2013.

[77] Wajsbrot, Cécile: Totale éclipse. Paris: Christian Bourgois 2014.

[78] Wajsbrot, Cécile: Destruction. Mir liegt eine noch unveröffentlichte Manuskriptfassung der Autorin vor.

[79] Vgl. Ette, Ottmar: Urbanität und Literatur. Städte als transareale Bewegungsräume bei Assia Djebar, Emine Sevgi Özdamar und Cécile Wajsbrot. In: Messling, Markus / Läpple, Dieter / Trabant, Jürgen (Hg.): Stadt und Urbanität. Transdisziplinäre Perspektiven. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2011, S. 221-246.

[80] Vgl. hierzu Kristeva, Julia: Soleil noir. epression et mélancolie. Paris: Gallimard 1987.

[81] Wajsbrot, Cécile: Destruction, S. 21 f.

[82] Ebda., S. 36.

[83] Ebda., S. 122.

[84] Vgl. die neuere Ausgabe von Halbwachs, Maurice: La mémoire collective. Paris: Albin Michel 1997.

[85] Ebda., s. 48 f.

[86] Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In (ders.): Gesammelte Schriften. Band I, 2. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 695.

[87] Ebda., S. 697 f.

[88] Ebda., S. 127.

[89] Ebda., S. 133.

[90] Ebda., S. 165.

[91] Vgl. http://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Pressemitteilungen/MEMO_PKfinal_13.2.pdf (S. 14). Stimme eher zu = 26%; stimme stark zu = 22%. Dr. Jonas Rees, Prof. Dr. Andreas Zick: Trügerische Erinnerungen. Wie sich Deutschland an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert. Uni Bielefeld 2018.

[92] Zur Semantik von Naturkatastrophen vgl. Ette, Ottmar: Carnival and other Catastrophes. New Orleans: A Global Archipelago. In: Ette, Ottmar / Müller, Gesine (Hg.): New Orleans and the Global South. Caribbean, Creolization, Carnival. Hildesheim - Zürich - New York: Georg Olms Verlag 2017, S. 15-67.

[93] Ebda., S. 55.

[94] Ebda., S. 119.

[95] Ebda., S. 112.

[96] Vgl. Sarraute, Nathalie: Tropismes. Paris: Denoël 1939.

[97] Cortázar, Julio: Casa Tomada. diseño gráfico por Juan Fresán. Buenos Aires: Ediciones Minotauro 1969.

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